CHROMATIK
Wollte man den modalen Charakter sowie, aus der Vogelperspektive, die Anordnung der zwölf Solmisationssilben in wenigen Zeilen zusammenfassen, so würde das etwa so aussehen: Die zwölf Stufen der chromatischen Tonleiter können in drei Gruppen arrangiert werden. (1) Die erste Gruppe enthält die Stufen RE, SI, TI und FA. Das Merkwürdigste an diesem System ist ja, daß das Zentrum von einem ”schwarzen Loch” gebildet wird. Das Zentrum – der Nullpunkt – fällt auf den Punkt der Atonalität. Aufwärts wie abwärts von RE oder SI nehmen alle Stufen eine symmetrische Position ein. Auf der Klaviertastatur zum Beispiel hat jedes Intervall sein Spiegelbild im Bezug auf d oder gis. Symbolisch gesprochen bezeichnen die Elemente, die in Bezug auf das System symmetrisch sind, den Zustand ”physikalischen Todes”. Die symmetrische Teilung des Quintenzirkels – seine wiederholte Zweiteilung um das Symmetriezentrum RE – wird im ersten Diagramm gezeigt: siehe Bsp. 217. Eben diese sind die sogenannten ”empfindsamen Töne” der Dur- und Molltonleitern: in C-Dur sind es h und f, in a-moll sind es d und gis. Entfernt man nun diese vier Töne aus dem Quintenzirkel, so erreicht man die Grundskala des ”chromatischen Systems”: in unserer Terminologie, das Modell 1:2. (2) Die zweite Gruppe – die tatsächlich als erste stehen sollte – enthält die Stufen LA, DO, MI, SO. Diese sind die statischen Säulen unseres tonalen Systems: DO-MI-SO (in C-Dur: c-e-g) konstituiert den Durakkord, LA-DO-MI (in a-moll: a-c-e) den parallelen Mollakkord. In dieser Formel verschmelzen die allernächsten natürlichen Obertöne. Das Verhältnis dieser Töne ist einzigartig und hat keine Alternative: die organische Verbindung zwischen den Tönen ist durch die Oberton-Relationen gesichert; die Synthese wird geschaffen durch die Intervalle der reinen Quint, großen Terz und kleinen Sept. Bsp. 111 (3) Die dritte
Gruppe umfaßt diejenigen Stufen, die für die typischen modalen
Farben verantwortlich sind: DI, MA, FI und TA. Die aufwärtslockenden
DI und FI bewirken einen chiaro-Effekt, wohingegen MA und TA oscuro-Wirkung
haben. Während jedoch DI und MA (cis und es in der Leiter
auf C) als dynamische gespannte Elemente erscheinen, treten FI und TA (fis
und b) als statische Farbelemente auf. DI und MA legen eine ”Dur”-
beziehungsweise ”Moll”-Spannung nahe. FI und TA dagegen bestimmen den Charakter
der ”akustischen” oder Oberton-Skala. (Siehe hierzu auch die Zusammenfassung
am Ende dieses Kapitels.)
Es war, glaube ich, Verdis Otello, der mir klarmachte, daß die Grundkonzepte unserer Musiktheorie (und sogar die elementaren Partikel und Atome der klassischen Harmonik, wie die in unseren Köpfen verankerten Bilder von Dur- und Mollakkorden) nach einer Neubewertung, einem besseren Ansatz und einer neuen Interpretation verlangen. Gehen wir aus von jenem Des-Dur-Dreiklang (tatsächlich müßte es Cis-Dur sein), der den ersten Akt des Otello krönt. Können wir die Essenz dieses Phänomens erfassen, wenn dieser Akkord auf der Grundlage unseres klassischen Begriffsapparats als Durakkord auf der I. Stufe erklärt wird? In diesem Fall wäre das bedeutsamste Erlebnis gerade verloren: die Beschreibung der einmaligen Erhebung, die gegen Schluß des Aktes (”Vien... Venere splende”) die Sterne zum Aufleuchten bringt und die Liebenden in den Himmel aufsteigen läßt. Der Hauptgedanke des Werkes, das ”Kußthema”, in das der Schluß des Aktes hineinfließt, läßt keinen Zweifel hinsichtlich der Grundtonart. Das Thema spielt sich innerhalb des Rahmens der Vierkreuz-Tonarten E-Dur und cis-moll ab. Nach einer abschließenden Kadenz und einigen überleitenden Noten öffnet es sich in den Cis-Dur-Akkord. Wenn die Tonika E-Dur als DO-MI-SO-Akkord und cis-moll daher als LA-DO-MI betrachtet wird, so verlangt der Cis-Dur-Klang demzufolge eine Interpretation als LA-DI-MI! Relative Solmisation macht einen greifbaren Unterschied zwischen den zwei Arten von Durakkord: dem auf e und dem auf cis. Die Dreiklänge DO-MI-SO und LA-DI-MI vertreten ganz unterschiedliche tonale Qualitäten, einen verschiedenen musikalischen Charakter. Beide Akkorde – sowohl der auf e als auch der auf cis – sind Durdreiklänge. Aufgrund der Stufe DI ist jedoch der LA-DI-MI-Klang viel heller und enthusiastischer als der einfache Durdreiklang. Die Hochalterierung von DO nach DI erzeugt die Illusion von Erhebung. Dies ist es, was die Sterne vibrieren läßt, und was ein Gefühl emotionaler Erfüllung erregt. Der Abstand von drei zusätzlichen Kreuzen zwischen den Tonarten E-Dur und Cis-Dur unterstreicht dieselbe modale Spannung, die in der Musik von Bartók und Kodály als ”Achsenspannung” bezeichnet wurde. (Die Dreiklänge auf einer und derselben Achse – z.B. auf c, a, es und fis – unterscheiden sich durch drei, oder 3+3=6, Vorzeichen.) Der berühmte ”Licht-Akkord” in Haydns
Oratorium Die Schöpfung erstrahlt mit derselben Erhöhung
von DO zu DI!
Und nicht nur das: Haydn verdoppelt diese Wirkung mit einer weiteren Drei-Kreuze-Erhöhung, die sich von C-Dur nach A-Dur hinaufschwingt. Es stellt sich nun die Frage: Was geschieht im Falle eines Abstiegs durch drei B´s – zum Beispiel, wenn C-Dur für Es-Dur ertauscht wird? Bsp. 114 In diesem Fall wird der Durakkord auf DO in den Durakkord auf MA transformiert. Der Charakter des Es-Dur-Akkords ist von der MA-Stufe bestimmt – die Melodie selbst verwirklicht den Abstieg von MI zu MA (siehe den Schritt e-es in der Eröffnung des Themas). Auf diese Weise wurde die genannte Melodie zum Leitmotiv von ”Traum und Schlaf” in Wagners Walküre. (In Takt 3 findet ein ähnlicher Wandel statt.) Der Unterschied von drei Vorzeichen zwischen C-Dur und Es-Dur drückt wiederum eine ”Achsenspannung” aus. Der Zustand des tiefen Schlafes (Betäubung durch Gift) in Mozarts Così fan tutte wird ebenfalls durch die Durtonart auf MA symbolisiert: dort folgt B-Dur auf G-Dur: Bsp. 115 Oder nehmen wir einmal den Molldreiklang – z.B. einen e-moll-Akkord – und ersetzen ihn durch die drei Vorzeichen niedriger liegende Tonart, d.h. durch g-moll. Wenn wir e-moll als einen Akkord aus LA-DO-MI betrachten, so representiert der g-moll-Dreiklang konsequenterweise die Stufen DO-MA-SO, und sein Charakter wird demzufolge durch die düsterklingende Stufe MA bestimmt. Bsp. 116 Die Reprise des ”Dies irae” in Verdis Requiem macht einen so grausamen Eindruck, weil sich dort der dominantische H-Dur-Septakkord nicht in das zu erwartende e-moll, sondern nach g-moll hin, also in einen DO-MA-SO-Akkord, auflöst! Verdis ätherischste musikalische Formel wird erzeugt, indem die erwartbare Tonika a-moll durch fis-moll ersetzt wird: FI-LA-DI (Bsp. 118). Seine luftige und sublime Wirkung ergibt sich aus den aufwärtsstrebenden Stufen FI und DI. Die Musik erreicht hier sozusagen einen Punkt jenseits der Erdanziehungskraft. Bsp. 118
Es ist ein organischer Teil der fröhlichen Atmosphäre im zweiten Zwischenspiel aus Kodálys Marosszéker Tänzen, daß das Thema, das viermal wiederkehrt (in Takt 108, 120, 132, 144), in kleinen Terzen absteigt – was heißt, das es sich in jedem Fall um drei Vorzeichen aufwärts bewegt. Auf diese Weise schreitet es die gesamte Achse cis(des)-b-g-e ab und wird dabei zunehmend heller. Der Gegensatz hierzu, die dunkle und beunruhigende Wirkung von in kleinen Terzen aufwärtskletternden Sequenzen, war schon den Romantikern wohlbekannt. Der Ruf zum Tode am Beginn des Tristan-Vorspiels würde sicherlich bedeutungslos bleiben ohne diesen Kleinterzen-Anstieg in Viertaktsequenzen). Im Liebestod-Thema ist dieser Vorgang nur noch beschleunigt: Die Melodie bewegt sich durch kleine Terzen aufwärts, so daß sie im Durchgang durch die gesamte Achse as-h-d-f zunehmend dunkler wird. Bsp. 119 Das unmittelbare Nebeneinander der zwei Arten von Sequenz ist besonders wirkungsvoll. Dies findet sich in Bartóks Violinkonzert, wo auf diese Weise die eine Phrase einen ”freudigen”, die andere dagegen einen ”ringenden” Charakter erhält. Bsp. 120 Die Refrainmelodie der Marosszéker Tänze nimmt heftig leidenschaftlichen oder triumphierenden Charakter an, je nachdem welches der farbgebenden Elemente die Oberhand gewinnt: der Dreiklang auf der eine kleine Terz höheren Stufe (wie im ersten Auftreten des Themas), oder der eine kleine Terz niedrigere (wie im letzten Auftreten des Themas): Bsp. 121 Tristans Sehnsuchtsmotiv taucht im Laufe
des Vorspiels in drei grundlegenden Formen auf:
und durchläuft so die gesamte Achse f-d-h-as. Bsp. 122 Die Exposition beinhaltet eine Erhöhung durch drei Vorzeichen, die Reprise eine Erniedrigung um drei Vorzeichen, während es im Mittelteil keinen Wandel in der Spannung gibt. (Der Vorzeichen-Unterschied zwischen F-Dur und H-Dur beträgt plus sechs = minus sechs; infolgedessen gleichen die beiden Tendenzen die jeweils gegenteilige Spannung aus.) In Beethoven’s Missa solemnis fließt ein Hauch frischer Luft über das Orchester, wenn im Gloria authentische Kadenzschritte (V-I) mit LA-DI-MI-Effekten abwechseln. (Die Durakkorde hier sind h-as, des-b, es-c und f-d.) Bsp. 123 In Grigorijs Traumerzählung aus Mussorgskijs Boris Godunov legt der Text selbst die Erhöhung nahe: ”... eine steile Treppe führt' hoch auf einen Turm mich”. Die Vision wird durch Harmonie-Sequenzen erzeugt, die in kleinen Terzen absteigen: Bsp. 124 Werfen wir unser Netz etwas weiter aus,
so entdecken wir, daß – in Verwandtschaft mit den Dreiklängen
DO-MI-SO und LA-DO-MI –
In meinen früheren Untersuchungen
(zwischen 1947 und 1974) habe ich beinahe zwanzig theoretische Ableitungsmöglichkeiten
für das Achsensystem ausgearbeitet. Ich habe dabei bislang jedoch
eine Möglichkeit übersehen: nämlich, daß relative
Solmisation das einfachste Mittel sein könnte, um die Anziehungskräfte,
die innerhalb des Systems herrschen, ”sichtbar” zu machen.
Auf elementarer Ebene wird die Harmonik der Romantik demnach von zwei Schlüsselbegriffen beherrscht: DI und MA. Die charakteristischste Achsenspannung allerdings verwirklicht sich in der Polarität, in der Beziehung zwischen den entferntesten Tonarten: in der Distanz von 3+3, d.h. sechs Vorzeichen (wie z.B. in den Verbindungen von A-Dur und Es-Dur oder A-Dur und c-moll). Es folgt aus dem oben Ausgeführten, daß der polare Spannungscharakter hervorgebracht werden kann, indem DO zu DI und, gleichzeitig, MI zu MA modifiziert wird. Nehmen wir die einfachste Beziehung: C-Dur und seine Paralleltonart a-moll. Wenn wir im C-Dur-Akkord MI durch MA ersetzen, und im a-moll-Akkord DO durch DI, so entstehen die Dreiklänge DO-MA-SO und LA-DI-MI. Bsp. 125 Der Unterschied zwischen den drei B’s des c-moll und den drei Kreuzen des A-Dur beträgt sechs Vorzeichen. (Es soll hier besonders darauf hingewiesen werden, daß normalerweise ein Akkord auf LA an Moll denken läßt und ein Akkord auf DO an Dur. In den Beispielen 125 und 126 entsteht jedoch der Durakkord auf LA und der Mollakkord auf DO!) Tristans Todesmotiv ist tatsächlich
eine Verwirklichung dieser polaren Idee:
Der formale Wendepunkt von Isoldes Liebestod (”wundervoll und leise”) spiegelt einen ähnlichen Gegensatz: cis-moll und Ais-Dur. Bsp. 127 In Bachs Johannes-Passion ist der Kontrast zwischen den Soldaten und der Jungfrau Maria mittels d-moll- und H-Dur-Harmonien abgebildet: dunkle DO-MA-SO-Akkorde und helle LA-DI-MI-Akkorde. Wenn H-Dur erklingt, erscheint die Szene wie von himmlischem Licht übergossen: ”Es stund aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter”. Bsp. 128 Im Augenblick, wo Otello Selbstmord verübt, ist diese Reihenfolge umgekehrt: zuerst kommt der LA-DI-MI-Akkord, dann, mit einem plötzlichen Fall in die sechs Vorzeichen niedrigere Tonart, der DO-MA-SO-Klang (D-Dur und f-moll). Bsp. 129 Doch kehren wir zurück zu den Paralleltonarten C-Dur und a-moll, und modifizieren wir DO zu DI und MI zu MA! Der so entstandene Klang kondensiert die polaren Akkorde A7 und Es7 Akkorde, die zueinander im Tritonus-Verhältnis stehen. Bsp. 130 Unser nächstes Beispiel gilt dem Auftreten Parsifals in der Blumengartenszene. Die Grundtonart ist vertreten durch C-Dur und das parallele a-moll (c-e-g und a-c-e). Wenn wir DO durch DI ersetzen und MI durch MA, so entspringt mit den Schritten c-cis (DO-DI) und e-es (MI-MA) automatisch die Fortführung des Themas: die polare Formel a-es-g-cis. Wiederum ist hier der A7-Akkord (a-cis-g) mit dem Es7-Akkord (es-g-cis=des) kombiniert. (Anmerkung: a und es bezeichnen die Extrempunkte des Quintenzirkels; siehe hierzu eine Abbildung des Achsensystems: Bsp. 1.) Bsp.132 demonstriert diesen polaren Charakter mit fast sinnlicher Kraft. Zu Beginn des dritten Aktes begrüßen Desdemona und Otello einander. Desdemona ist noch arglos, doch Otello wird bereits vom Stachel der Eifersucht geplagt. Entsprechend bleibt Desdemona harmonisch im Bereich der Tonika E-Dur/cis-moll, während dieselbe Melodie durch Otello eine polare Verbiegung erfährt: er deformiert DO zu DI und MI zu MA (siehe die Alterierungen e-eis und gis-g) Bsp. 132 Ohne Präzedenzfälle dieser Art wäre es schwer verständlich, wie das gemeinsame Auftreten der DO-DI- und MI-MA-Veränderungen in Bartóks Musik zur Regel werden konnte. Wir sehen dies z.B. im ”Marcia”-Thema des Sechsten Streichquartetts. Bsp. 133 Schließlich sollte noch der ”reziproke” Fall der polaren DI+MA-Spannung erwähnt werden. Nehmen wir D-Dur sowie einen F7-Akkord als Beispiel. Das Zusammentreffen der beiden resultiert in einem polaren Effekt, wenn die Noten DO und MI (d und fis) aus dem ersten Akkord zu DI und MA (dis=es und f) im zweiten werden. Bsp. 134 Eine umgekehrte Wirkung kann erzielt werden, wenn die beiden Akkorde ausgetauscht erscheinen. In diesem Fall folgt dem Akkord mit polarer Spannung eine plötzliche Auflösung. In der Rebellionsszene aus Verdis Don Carlos wird die entstellte Situation durch eine Wendung von F7 nach D-Dur gelöst: die gebieterische Gestalt des Großinquisitors überragt die Menge und zwingt die Rebellen mit einer einzigen Geste in die Knie. Der Effekt spricht für sich. Bsp. 135 Wenn wir das oben Gesagte systematisieren,
Bsp. 136
Daß es sich hierbei nicht um ein
theoretisches Problem handelt, sondern um ein ”lebendiges”, wird an Verdis
Falstaff
(Akt II Szene 2) deutlich. Die drei Arten von Durakkord sind hier:
Liszts Rákóczy-Marsch (Rhapsodie XV) ist eine ”Verkörperung” von Bsp.137. Die Melodie selbst hat a-moll-Charakter (=LA-DO-MI) und wird von fis-moll (FI-LA-DI) und c-moll (DO-MA-SO) begleitet: Bsp. 139 Es mag paradox scheinen, aber die späte
Romantik entdeckte eine neue Art Harmonien: die Molltonart (Tonart auf
LA) mit Durterz (DI), und umgekehrt die Durtonart (Tonart auf DO) mit Mollterz
(MA).
Diese Kombination trägt in sich den Kern eines bedeutungsvollen Akkordtyps, der ein wahres Emblem der romantischen Musik wurde. (Man denke hier nur an den wohlbekannten ”Tristan-Akkord”; siehe Bsp. 152.) Da dieser Akkord sich als die ”Parallele” zur Mollharmonie erweist, nennen wir es den ”Submoll”-Akkord. Im Parsifalmotiv nimmt diese besondere Verbindung wie folgt Form an: Um einen Unterschied zwischen den drei Grundtypen zu machen, werden wir in den Harmonie-Diagrammen Septakkorde, die Durcharakter haben, mit Großbuchstaben bezeichnen, Septakkorde mit Mollcharakter mit Kleinbuchstaben, und Septakkorde, die auf dem verminderten Dreiklang aufgebaut sind, mit einem kleinen Kreis unter der Zahl 7. (Das Rahmenintervalle dieser Akkorde ist eine kleine Sept.) Bsp. 142 Im obigen Beispiel wird zwischen C-Dur und c-submoll eine ”polare” Spannung erzeugt, da C-Dur und es-moll – letzteres ist ein Bestandteil von c-submoll – einen Abstand von sechs Vorzeichen repräsentieren (ähnlich den Tonarten, die einander im Quintenzirkel gegenüberliegen). Aus diesem Grunde bevorzugen Bartók und Kodály den Gebrauch von g-submoll anstelle des konventionellen Dominantseptakkords g-h-d-f: In der Refrainmelodie von Isoldes Monolog (III. Akt) manifestiert sich die polare Spannung von D-Dur und d-submoll: Bsp. 144
* Aus dynamischer Sicht wird bei Übergängen
zwischen Dur-, Moll- und Submoll-Akkorden die einfachste Beziehung durch
die Parallelverwandtschaften der Tonarten geschaffen, z.B. durch
einen Wandel
d.h. z.B. von C-Dur nach a-moll, von a-moll nach fis-submoll, oder von C-Dur direkt nach fis-submoll, und umgekehrt.
Bsp. 146
So wurde die Melodie aus Bsp. 145 zum ”Fluchmotiv”, und die harmonische Wendung aus Bsp. 147 zum Symbol des ”toten” Schwans. In Liszts Oratorium Via crucis erzeugt Jesu Tod (Consummatum est – XII. Station) eine lähmende Wirkung, weil fis-moll vom parallelen A-Dur gefolgt wird. Bsp. 148 Eine ”modale” Bewegung ist sehr
viel wirkungsstärker als eine Bewegung zur Paralleltonart; d.h.
d.h. z.B. von C-Dur nach c-moll, von c-moll nach c-submoll, oder von C-Dur direkt nach c-submoll, und umgekehrt. Bsp. 149 Es muß hier auch angemerkt werden,
daß
(So wird es kaum bemerkt, wenn man Bachs
Mollfugen mit einem Durdreiklang schließt.) Das Cis-Dur-Zwischenspiel
in Kodálys Marosszéker Tänzen verdankt seine
heitere Naturatmosphäre eben diesen ”natürlichen”, positiven
Verbindungen, d.h. den Bewegungen
Die Harmonien durchschreiten auf diese Weise den gesamten Achsenzirkel: Bsp. 150 Im Gegensatz dazu erzeugt
Im Mittelteil von Liszts ”R. Wagner, Venezia” (ab
Takt 31) hören wir ausschließlich reine Dreiklänge; und
dennoch erhalten diese Dreiklänge einen tragischen Charakter, da sie
sich in ”negativer”, ”unnatürlicher” Richtung bewegen, d.h.
Bsp. 151 Wie man erwarten kann, folgt Isoldes ”Liebestod”
demselben harmonischen Leitfaden. (Siehe hierzu Bsp. 191.)
Umsonst fordern wir die klassische Theorie
mit unseren Fragen heraus: was ist es im Tristan-Akkord, das dem
Hörer ”ins Herz schneidet”? Anstelle theoretischen Überlegungen
nachzugehen, sollten wir unserer gesunden musikalischen Intuition folgen.
Wir wissen instinktiv, daß der f-moll-Dreiklang die Parallele Tonart
zu As-Dur repräsentiert. Das bedeutet:
und schafft damit die grundlegende musikalische Beziehung. Ersetzen wir dann unerwarteterweise die Note MI mit der schmerzlich-dunkelgefärbten Note MA, so nehmen wir sofort die Spannung wahr, die den Akkord beinahe zerreißt. Die Bewegung zu MA wird im Tristan-Zitat aus den Meistersingern besonders deutlich: Die ”Grundform” des Tristan-Motivs, sein typisches Erscheinungsbild ist das mit der Note as beginnende, wie am Schluß des Vorspiels. Und wenn Wagner das Werk schließlich doch mit der Note a beginnt, so wird die durch die Noten DI+MA erzeugte polare Spannung umso spürbarer. Bsp. 154 Submoll kann auch als Tonika fungieren. Wie Beispiel 153 demonstriert, erklingt der Tristan-Akkord f-submoll als Paralleltonart der Tonika as-moll – quasi als Trugschluß! Der F-Dur-Charakter des Eröffnungsintervalls der Ouvertüre (a-f) und der H-Dur-Schluß der Oper repräsentieren eine Gegenpol-Beziehung. Gleichzeitig vertritt der abschließende H-Dur-Akkord das parallele Dur zur Grundtonart (as-moll) und legt als solches einen Todessymbolismus nahe. Nichts zeigt die ”Achsenspannung” des Tristan-Akkords besser als seine Auflösung, die – entsprechend dem Achsensystem – in vier verschiedenen Weisen ausgeführt werden kann: nach E, B, Des oder G. Bsp. 155 Im Parsifal ist das Liebessymbol ebenfalls durch f-submoll, d.h. den Tristan-Akkord, repräsentiert. Die emotionale Metamorphose tritt ein, wenn unter dem spannungsgeladenen Tristan-Akkord ein des als Grundton erklingt. Dieses des verändert sofort, wie durch ein Wunder, die Bedeutung des f-submoll: die Töne f-as-ces-es werden zu Obertönen (große Terz, Quint, Sept, None) und beginnen infolgedessen sinnlich zu ”schweben”: Bsp. 156 Auf diese Weise wird eine angespannte Harmonie in eine ”Farbe” umgewandelt. Der Baßton des fungiert als ein akustisches Prisma, das den Sinn, die Färbung und die Atmosphäre des Tristan-Akkords verändert. Da wir die Töne, die zuvor Grundbestandteile waren, nun als Obertöne wahrnehmen, wird ihre Wirkung sozusagen körperlos. Was diese und ähnliche Auslösungen für Kodály bedeutet haben, erhellt aus dem folgenden Auszug aus dem Psalmus. Nach dem Augenblick der dramatischen Entfaltung (”Er nimmt der Seele alle, alle Erdennot”), schmilzt der Tristan-Akkord in ähnlicher Weise in einen Des-Dur-Nonenakkord: Bsp. 157
Mit Hilfe der relativen Solmisation können tonale Beziehungen weiter vereinfacht werden. Wir stellen die parallelen Verbindungen (z.B. C-Dur, a-moll, fis-submoll) untereinander, und die modalen (z.B. A-Dur, a-moll, a-submoll) nebeneinander. Bsp. 158 Die Spalten mit A-Dur, C-Dur und Es-Dur sind voneinander jeweils durch drei Vorzeichen unterschieden. Der so entstehende ”Luftdruck”-Unterschied drückt sich ebenfalls in der Tatsache aus, daß der Charakter der linken Spalte durch die Stufe DI bestimmt wird, der der rechten Spalte dagegen durch die Stufe MA (siehe die Noten cis bzw. es). Jetzt brauchte nur noch ein weiteres Bindeglied – entweder vertikal oder horizontal – um die Achse zu vervollständigen. Diese aufsteigenden, abfallenden und kollateralen Beziehungen sind ebenfalls gültig für die beiden anderen Funktionen: die Dominante und die Subdominante. Wir zitieren hier erneut Verdi, und zwar das ”Ave Maria” aus dem Otello (siehe Bsp.159). Es fällt auf, daß der Oberstimmen-Orgelpunkt es allen Akkorden gemeinsam ist – weswegen wir ausschließlich Tonika und Dominant-Akkorde antreffen; die ersteren sind unterhalb, die letzteren oberhalb der Systeme bezeichnet. Die Dominant-Akkorde sind mit nur drei Varianten (die Akkorde auf der V. Stufe: Es-Dur und es-moll, sowie die Parallele zu Es-Dur: c-moll) einfach zu überschauen. Unter den Tonika-Akkorden erweisen sich ebenfalls die gleichnamigen (As-Dur –as-moll) und die parallelen Verbindungen (As-Dur–f-moll) als die direktesten. Diese drei Akkorde schaffen auch die Voraussetzung für f-submoll (siehe hierzu Bsp. 160a). Die f-moll- und as-moll-Harmonien können jedoch nicht nur ”nach innen” (d.h. durch f-submoll als Mittler) verknüpft werden, sondern auch ”nach außen”, in der Richtung von F-Dur und Ces-Dur: von f-moll zur gleichnamigen Tonart F-Dur und von as-moll zur Paralleltonart Ces-Dur. F-Dur und Ces-Dur polarisieren nicht nur den Klang (da sie Gegenpole sind), sondern erzeugen darüberhinaus eine homogene tonale Einheit: Bsp. 161 Die Fortsetzung des Parsifal-Themas aus Beispielen 131 und 141 beruht auf der Wechselbewegung zwischen Fis-Dur und C-Dur. Bsp. 162 Die zwölf Glockenschläge aus der Nachtszene von Verdis Falstaff bietet ein Modellbeispiel für die Subdominante. (Da der Glockenton f in jedem Akkord unverändert bleibt, finden sich hier ausschließlich Tonika- und Subdominant-Akkorde.) Verdi schöpft alle Möglichkeiten der Permutation aus.
* Wie zuvor bereits ausgeführt wurde, sind es im Achsensystem nicht die IV. und V. Stufe, die die Subdominant- bzw. Dominant-Funktionen am kraftvollsten vertreten, sondern jene Stufen, die den Quintenzirkel in drei gleiche Segmente unterteilen. Der weite emotionale Ausdrucksspielraum des Liebesduetts zwischen Otello und Desdemona kann der Tatsache zugeschrieben werden, daß sowohl die ”Tiefe” der Subdominante als auch die ”Höhe” der Dominante bis zum Äußersten gestreckt werden (Bsp. 164). Im Vergleich zur Tonika Ges-Dur kann die negative Spannung der Subdominante verstärkt werden, wenn die vierte Stufe Ces-Dur (H-Dur) durch die über ihr liegende Kleinterz-Stufe D-Dur ersetzt wird. Soll dagegen die positive Spannung der Dominante unterstrichen werden, so setzt man an die Stelle der V. Stufe Des-Dur den Akkord auf der eine Kleinterz niedrigeren Stufe, nämlich B-Dur. Auf diese Weise wird erreicht, daß die Tonika Ges, die Subdominante D und die Dominante B einen übermäßigen Dreiklang bilden. Bsp. 164 Am Schluß des dritten Aktes zersprengt die Kadenz auf der Basis des übermäßigen Dreiklangs c-as-e fast den Rahmen der Tonalität.
* Die Abbildung des Achsensystems vermittelt
den Eindruck, daß – im Falle der Tonart C-Dur – eine Dominante–Tonika-Kadenz
die folgenden Formen annehmen kann:
Bsp. 166
(1) Der Quartschritt aufwärts entspricht der klassischen Kadenz V-I
(G7® C).
Theoretisch können diese vier Formen zur Struktur des Achsensystems zurückverfolgt werden. Der Schlüssel für den individuellen Charakter jeder Auflösungsform liegt jedoch wiederum in der modalen Eigenschaft des jeweiligen Themas. Beginnen wir mit der ”modalen” Dominante: B7 ® C Nach dem dominantischen B-Dur-Septakkord würde man Es-Dur als Tonika erwarten. Wenn nun anstelle von Es-Dur überraschend C-Dur auftritt, so bedeutet dies, daß die Stelle des erwarteten Grundtons DO (es) von DI (e) eingenommen worden ist! Auf diese Weise ist auch die Tonika selbst erhöht worden. Bsp. 167 Bartóks Violinkonzert beginnt mit einer Pendelbewegung zwischen Akkorden der Tonika (H-Dur) und der modalen Dominante (A7). Bsp. 168 Im ersten Akt des Otello wird das Duett zwischen Jago und Roderigo durch die Verwendung modaler Dominanten zunehmend angespannt. Bsp. 169 In dieser Akkordsequenz enthält jeder Folgeklang anstelle eines erwarteten DO ein DI. Dies steht in vollkommenem Einklang mit dem Text, der von ”Rängen” handelt – vom Unterschied zwischen dem beneideten Kapitänsstatus und dem subalternen Rang eines Fähnrichs. Es ist, als stünde Jago auf Zehenspitzen, wenn das wiederholte ”mio!” durch die Stufe DI verstärkt wird. Übrigens helfen uns vielleicht diese Beispiele aus dem romantischen Repertoire, besser zu verstehen, warum Bartók und Kodály die Verwendung modaler Dominanten dem Gebrauch der dominantischen fünften Stufe vorzogen (wobei der Volksmusik-Einfluß natürlich eine bedeutende Rolle spielte). Der zur modalen Dominante inverse Proseß ist der der Dominante auf der dritten Stufe, deren Auflösung durch einen Großterzschritt abwärts erreicht wird: E7 ® C Der Dominant-Septakkord wird hier nicht vom üblichen A-Dur (DO-MI-SO) gefolgt, sondern von C-Dur: dem ”MA-Dur”-Akkord. Bsp. 170 Am Tiefpunkt des Otello (siehe Bsp. 165 oben), am Ende des dritten Aktes, ist die Wirkung des E-Dur – C-Dur Schlusses umso schockierender, da die Stelle der erwarteten Stufe MI von MA (dem Ton c) eingenommen wird. Dies ist der Grund, warum die III-I-Kadenz so stark mit Todessymbolismus belastet ist. Dies zeigt sich im Troubadour, wenn Leonore gesteht, daß sie bereit sei zu sterben: die dritte Stufe G-Dur wird von der Tonika Es-Dur gefolgt. Bsp. 171 Isoldes Liebestod in Wagners Tristan wird von einer ganzen Kette von III-I-Kadenzen begleitet. Die Tonarten folgen einander in Achsen-Anordnung. Bsp. 172 Hier möchte ich auf das Gloria aus Beethovens Missa solemnis eingehen. Die heroische F-Dur-Dominante in ”Qui sedes ad dexteram patris” wird gefolgt von einer Tonika auf MA (Des-Dur). Dies ist der Grund, warum das ”Miserere nobis” Angst und Unruhe auslöst. (F ® Des entspricht einer III-I-Kadenz.) In Verdis Requiem wirft eine III-I-Kadenz einen Schatten von Verdammnis auf die Reprise des ”Dies Irae”-Themas: nach der Dominante H-Dur erscheint G als Tonika, daher der Schockeffekt! (Siehe hierzu Bsp. 117.) Die III-I-Kadenz kann auch als ein tonmalerisches ”Farbelement” auftreten. Zu Beginn der zweiten Szene des zweiten Aktes in Verdis Falstaff versucht Mrs. Quickly, Falstaffs tiefe, volltönende Stimme nachzuahmen, ja gar zu parodieren. Dieser Wandel im Klang geschieht durch eine III-I-Kadenz: E7 ® C (Siehe hierzu Bsp.138 oben.) *
Es folgt aus dem oben Ausgeführten, daß ein gegenteiliger Effekt erzielt werden kann, wenn dieselbe Tonart durch die tieferliegende große Sekunde (die modale Dominante) oder aber die höherliegende große Terz (III) vorbereitet wird. Zwei B-Dur-Themen aus dem Maskenball legen sich hier nahe – das erste eingeleitet durch eine As-Dur-, das zweite durch eine D-Dur-Dominante. Renatos erste Arie ist Ausdruck der Liebe und Hingebung eines Freundes. Doch unmittelbar nach der dramatischen Wendung, bei der Bloßstellung Amelias im zweiten Akt, hat dasselbe B-Dur infernalische Wirkung, indem es schneidenden Sarkasmus ausdrückt. Bsp. 173
Im Fall der I-III-Wendung ist E7 mit der Tonart A-Dur verwandt, die drei Kreuze über C-Dur liegt. Die III. Stufe erzeugt so die Wirkung eines Aufstiegs (einen ”Licht”-Effekt – chiaro). Andererseits ist im Fall, wo eine modale Dominante der Tonika auf der I. Stufe folgt, der B-Dur-Septakkord mit der Tonart Es-Dur verwandt, die drei Vorzeichen unterhalb von C-Dur liegt. Die modale Dominante erzeugt daher den Eindruck eines Abstiegs (einen ”Schatten”-Effekt – oscuro). Hier sind einige Beispiele für beide Fälle. Der erhebende Effekt des Aida-Themas kann der Tatsache zugeschrieben werden, daß die Tonika von einer Dominante auf der III.Stufe gefolgt wird. Im Gegensatz hierzu wird der dramatische Wendepunkt im Rigoletto, das explosive ”La sua figlia!”, von einer auf die Tonika F-Dur folgenden modalen Dominante Es-Dur hervorgerufen. Bsp. 175 Für Beethoven wurde der Großterzübergang zum Mittel, ”mystische Versenkung” (III-I) oder ”Transsubstantiation” (I-III) auszudrücken: Um zusammenzufassen: Die Bedeutung der Kadenz aus
Diese Regelmäßigkeiten erstrecken sich auch über die Beziehung zwischen den Funktionen der Subdominante und Tonika, oder der Dominante und Subdominante. Man kann daher als generelle Regel folgendes annehmen: Bewegung des Grundtons um
Wir schulden jedoch noch die Interpretation der phrygischen Dominante (kleiner Sekundschritt abwärts), z.B. In der phrygischen Dominante wird genau wie in der klassischen Dominante des Septakkords auf der V. Stufe die Rolle des ”Leittons” von den ”empfindsamen” Tönen TI und FA übernommen: der Leitton TI zieht zum Grundton DO, und der Leitton FA zur Terz MI. Die ”empfindsamen” Töne TI und FA halbieren die Oktave; sie sind daher austauschbar – ohne jede Veränderung in der Beziehung. So sind TI und FA der Dominante auf der V. Stufe und der phrygischen Dominante gemeinsam; wie wir dem obigen Beispiel entnehmen können, sind Terz und Sept des G7 identisch mit Sept und Terz des dominantischen Des7. In der Anwerbung des Háry János tauscht Kodály den Dominantseptakkord (G7) mit seinem Gegenpol (Des7) aus – und erzielt auf diese Weise die phrygische Dominante. Bsp. 178
___________ Hier soll auch noch ein für Bartók typisches Beispiel angeführt werden. Bartók behält sich diese Auflösung für plötzliche Szenenwechsel vor: Ein interessantes Beispiel für die Kombination von phrygischer Dominante und Dominante auf der V. Stufe kann in Wagners Meistersingern beim Auftritt des Nachtwächters beobachtet werden.*) Bsp. 180
* Diese Wechselbeziehungen zu überblicken
ist einfach, wenn man gewahr ist, daß vom Dominantseptakkord
auf G vier verschiedene Tonika-Stufen erreicht werden können:
Hier sei die Schlußszene (”l’estasi d’un immortale amor”) aus Verdis Aida zitiert. Bsp. 181 As-Dur steht in Takt 3-4 für
die Dominante auf der V. Stufe, D-Dur in Takt 7 für die phrygische
Dominante, und F-Dur in Takt 8 für die Dominante auf der III. Stufe.
In der Mitte von Takt 4 tritt für einen Augenblick auch die modale
Dominante h-moll auf! Die Glorifizierung (”Schon öffnet sich des Himmels
Thor”, Takt 5-6) ist assoziiert mit einer Erhebung: B-Dur als LA-DI-MI.
Verdi mißt in seinem Spätstil dem verminderten Septakkord bemerkenswert viel Raum zu. Doch erweisen sich seine verminderten Septakkorde nicht als wahre Vertreter dieser Kategorie. Sie sind vielmehr Dur-Septakkorde, gebaut nach dem Muster DO-MI-SO-TA, deren Grundton DO zum DI hin ”überspannt” wird. Lange vor Verdi stellt schon der Ausruf ”Barrabam!” in Bachs Matthäus-Passion ein klassisches Beispiel einer solchen Veränderung nach DI dar. Anstelle der Tonika D-Dur erscheint dort der drohend wirkende verminderte Septakkord dis-fis-a-c. Bsp. 182 Zurück zu Verdi: der verminderte Septakkord c-es-fis-a, der Desdemonas Mord begleitet, beginnt als eine modifizierte Form des H-Dur-Septakkords (h-dis-fis-a) und endet polar, in einer Umkehrung des F-Dur-Septakkords (c-es-f-a). Bsp. 183 In Verdis Musik findet man auf Schritt und Tritt authentische Sequenzen, wie zum Beispiel Es ist jedoch bewährte Praxis, daß der eine oder andere dieser Dur-Septakkorde durch einen verminderten Septakkord vertreten wird. Im folgenden Beispiel, der Stretta aus der Eröffnungsszene des Falstaff, ist beinahe jeder Akkord durch einen verminderten Septakkord ersetzt – ohne daß dadurch die kadenzierende Bedeutung der Sequenzen (S-D-T-S-D-T) verschleiert oder überschattet würde. Bsp. 184 Der verminderte Septakkord gehört zur Familie der ”Distanz”-Klänge. Er unterteilt das tonale System in vier gleiche Quadranten. Es folgt daher, daß jeder verminderte Septakkord vier verschiedene Dur-Septakkorde vertreten kann. In der Sturmszene aus Otello erschöpft Verdi alle kombinatorischen Möglichkeiten: Bsp. 185 Die chromatische Erniedrigung jedweder Note des verminderten Septakkords erzeugt einen Dur-Septakkord (so entsteht z.B. aus dem verminderten cis-e-g-b der Dur-Septakkord c-e-g-b). Ist die nächste Terz auch erniedrigt, so erhält man einen Moll-Septakkord (c-es-g-b); bei Erniedrigung noch einer weiteren Terz ergibt sich ein Submoll-Akkord (c-es-ges-b). Kehrt man den Prozeß um, so erweitern sich die Klänge systematisch (Submoll-Moll-Dur-?). Verdi nimmt die Vorteile dieser Möglichkeit in der tonalen Anlage seines ”Credo” wahr. Unser tonales System erlaubt die Bildung dreier verschiedener
verminderter Septakkorde (1) ein ”tonikaler” verminderter Septakkord ersteht durch Erhöhung des Grundtons, des c: cis-e-g-b; (2) ein ”dominantischer” verminderter Septakkord wäre (, gis-h-d-f); (3) ein ”subdominantischer” wäre (, fis-a-c-es). Jede andere Form stimmt mit einer der
drei oben genannten Formeln überein. Der ”tonikale” verminderte Septakkord
enthält, wie man sieht, die Noten DI und TA, während die Grundtöne
der Dur- und Molltonarten durch DO bzw. LA vertreten sind.
Die Harmonien der Hochromantik erhalten oft eine Art von ”Hintergrunds”-Bedeutung, einen zweiten, transponierten Sinn. Dies geschieht, wenn ein Durakkord durch den einen große Terz höher liegenden Mollakkord ersetzt wird (wenn z.B. e-moll anstelle von C-Dur erklingt), oder aber umgekehrt, wenn ein Mollakkord vertreten wird durch den eine große Terz unter ihm liegenden Durakkord (wenn z.B. der a-moll-Akkord ersetzt wird durch den F-Dur-Akkord). Anders ausgedrückt: der Durakkord DO-MI-SO wird ersetzt durch MI-SO-TI, oder der Mollakkord LA-DO-MI durch FA-LA-DO. Um ein Beispiel zu nennen: Im Duett zwischen Rigoletto und Gilda spiegelt der e-moll-Akkord, der anstelle von C-Dur erklingt, Gildas Seelenreinheit. Der Substitutionsakkord verlieht der Melodie einen ”sublimen” emotionalen Gehalt. Bsp. 187 Im Gegensatz hierzu wird die tragische
Schwere und unheilvolle Atmosphäre in Kodálys Psalmus Hungaricus
dadurch erzeugt, daß unmittelbar zu Beginn des Werkes eine auf a-moll
zurückgehende Melodie in eine F-Dur-Harmonie eingebettet wird (siehe
hierzu Bsp. 70 oben).
(N.B. Es muß dabei unterschieden werden zwischen einem Schritt von FA nach MI und dem umgekehrten von MI nach FA. Dies erhellt aus dem Beginn der Ode an die Freude in Beethovens Choralsymphonie, wo die Transparenz des Gesangs im eröffnenden Schritt MI-FA begründet liegt.**) Der Akkord MI-SO-TI auf der einen Seite wurde zum überirdischen, ”transzendentalen” Element der späten Romantik. Der Klang FA-LA-DO auf der anderen Seite verleiht der Musik eine Art ”Gefühlstiefe” oder emotionales Gewicht. Aus den Noten der C-Dur- (oder a-moll-)Tonleiter lassen sich sechs vollständige Dreiklänge bilden: neben C-Dur und a-moll die Dreiklänge der Tonarten mit einem Kreuz, G-Dur und e-moll, und die der Tonarten mit einem B, F-Dur und d-moll (vgl. hierzu L. Bárdos: Modale Harmonik). Deshalb gilt:
sind jeweils identisch mit dem ”positiven” und dem ”negativen” Substitutionsakkord. Der Dur-Substitutionsakkord (F-Dur) intensiviert den Moll-Charakter eines Themas, während der Moll-Substitutionsakkord (e-moll) den Dur-Charakter einer Melodie verstärkt. Im ersten Fall bekräftigt die reine Quint f-c die Mollterz DO über dem Grundton a; im zweiten Fall dagegen unterstreicht die reine Quint e-h die Durterz MI über dem Grundton c. Ein Blick auf Beispiel 186 mag genügen, um zu zeigen, daß die beiden Arten des Substitutionsakkords (MI-SO-TI und FA-LA-DO) wiederum spiegelbildlich zueinander stehen. Sie sind tatsächlich symmetrisch um die Stufe RE angeordnet. Wir können nun unsere vorangehenden
Beobachtungen (siehe Kapitel Dur–Moll–Submoll) wie folgt
ergänzen:
Es folgt aufgrund dieser Fakten, daß positive oder negative Effekte auch gehäuft werden können. Ein Kennzeichen der schmerzlichen Atmosphäre des in Beispiel 44 früher zitierten Parsifal-Themas ist es, daß zwei negative Effekte – Wendungen von gleichnamigen Dur und Moll sowie substituierenden Moll und Dur – miteinander abwechseln: c-moll, As-Dur, as-moll, Fes(=E)-Dur, e-moll, C-Dur, c-moll. Wollten wir diese Anordnung umkehren, so erhielten wir alternierende Wendungen von gleichnamigen Moll und Dur sowie positiv (=Moll) substituierenden Akkorden. Ein auf diese Weise angelegtes Thema ist uns aus dem Tristan wohlbekannt (NB. es stammt vom die Oper eröffnenden Violoncello-Motiv: a-f-e-es-d): Bsp. 188 Lenken wir unsere Gedanken zurück zum Beginn des Parsifal, wo c-moll anstelle der Tonika As-Dur steht. Hierauf geht der erhebende, immaterielle Ton der Melodie zurück: Im ”Todesmotiv” aus dem Tristan
wurde jedoch die Tonika c-moll vom schweren As-Dur überschattet (siehe
hierzu das frühere Beispiel 126). Bleiben wir
weiterhin im Bereich der Tonarten As-Dur und c-moll:
In anderen Worten, wenn man As-Dur als einen DO-MI-SO-Akkord behandelt, so erhält c-moll die Bedeutung MI-SO-TI. Andererseits, wenn man c-moll als LA-DO-MI-Akkord betrachtet, so wird As-Dur zu FA-LA-DO. Kombiniert man nun As-Dur mit c-moll, so entsteht ein symmetrischer Akkord – der sogenannte ”Hyperdur”-Klang (siehe dazu auch schon Bsp. 70). Er besteht aus einem Durakkord mit Dur-Septime, z.B. as-c-es-g. Die merkwürdige Eigenschaft dieser Klänge wird wesentlich dadurch verstärkt, daß der positive Substitutionsakkord in den Bereich der Dominante fällt, während der negative Substitutionsakkord dem Subdominant-Bereich angehört. Bsp. 189 (in As-Dur) erhält dominantisches Flair durch das positive c-moll, während Bsp. 126 (dessen Tonika c-moll ist) durch den negativen Eröffnungsakkord As-Dur einen Anflug von Subdominante bekommt. Aus Bsp. 186 ergeben sich nun das Folgende: die Beziehung zwischen a-moll und C-Dur ist bestimmt durch den Schritt a - g, die Beziehung zwischen F-Dur und a-moll ist bestimmt durch den Schritt f - e. Dem entsprechen in melodischer Hinsicht die folgenden Wendungen: Bsp. 190 In einer Molltonart kann der Trugschluß (der Akkord der VI. Stufe, der anstelle des erwarteten Tonika-Akkords der I. Stufe erklingt) die Rolle eines Substitutionsakkords spielen, insbesondere wenn er den Kontakt mit der Tonika verliert und unabhängig wird. Hierin liegt der Schlüssel für Isoldes ”Liebestod”: in Takt 3 tritt der Trugschlußakkord Ces-Dur als negativer Substitutionsakkord von es-moll auf! Das Duett zwischen Rigoletto und Gilda ”Piangi, piangi, fanciulla piangi” erscheint übervoll mit Trauer dadurch, daß es nicht im erwarteten f-moll, sondern in Des-Dur steht. Nach der Dominante C ist Des-Dur sowohl Substitutionsakkord als auch Trugschluß, der jedoch die Beziehung zur Tonika F-Dur verloren hat. In Moll verhält sich die I. Stufe zum Trugschlußakkord (VI. Stufe) wie der Akkord der IV. Stufe zum Neapolitaner. Daraus ergibt sich, daß in Moll eine Analogie zwischen Neapolitaner und Trugschlußakkord besteht. In der osteuropäischen Volksmusik spielen die Leittöne FA-MI und TA-LA eine entscheidende Rolle, indem sie sowohl eine plagale (Subdominante-Tonika) als auch eine Substitutionsbeziehung herstellen (F-Dur zu a-moll und B-Dur zu d-moll). Kehrt man die obengenannten Akkorde um, indem man RE als Symmetriezentrum nimmt, so erhält man mittels der Leittonschritte TI-DO und FI-SO eine authentische Kadenz (Dominante-Tonika). In Wagners ”Opus Metaphysicum” (wie Thomas Mann den Tristan nannte) suggerieren diese Akkorde ein hohes Sehnen – eine abstrakte ”Gothic” Leidenschaft – wie in den drei Eröffnungstakten der dritten Szene des ersten Aktes: Bsp. 193 Unter bestimmten Bedingungen können negative Substitutionsakkorde eine spezifisch östliche, positive Substitutionsakkorde dagegen eine spezifisch westliche Denkweise nahelegen. (a) Es ist in Melodien mit Quartsext-Charakter und MI-LA-DO-Struktur die Regel, daß der Spannungsakkord (der dissonante ”Wechselklang” der Tonika) durch FA-LA-DO repräsentiert wird. Dies kommt zustande, wenn der Grundton MI mittels eines phrygischen Schrittes zur Stufe FA erhöht wird. Bsp. 194 Die beklemmende Atmosphäre, die sich in Desdemonas Leitmotiv in Akt IV ausdrückt, ist bestimmt durch den Quartsextakkord gis-cis-e, dessen dissonanter ”Wechselklang” a-cis-e ist (ein negativer Substitutionsakkord): Bsp. 195 (b) Wie oben gezeigt (siehe Bsp. 189), ist MI-SO-TI das verklärte, unirdische Element der Spätromantik. In Verdis Requiem ist der a-moll-Beginn geladen mit bedrückender Todessymbolik. Doch dasselbe a-moll-Thema erhält in der Reprise einen transzendentalen Charakter, da es als positiver Substitutionsakkord von F-Dur wiederkehrt: jetzt macht es das ewige Licht sichtbar. Bsp. 196
Bemerkungen über Verdis Farbakkord Ich möchte mich hier auf die Modifikation des kadenzierenden Quartsextakkords der I. Stufe beziehen. In beinahe jedem wichtigen Dur-Thema des Otello ist dieser Akkord durch seinen Substitutionsakkord gefärbt; die E-Dur-Kadenz, zum Beispiel, durch den gis-moll Klang. Verdi vertauscht diesen SO-DO-MI Quartsextakkord für den positiven Substitutionsakkord SO-TI-MI: man hört den Ton TI, anstelle des gewohnten DO (oder zumindest färbt ein SO-TI-MI-Akkord die Dominante). Diese Beziehung ist noch umso unzweideutiger im Mottothema aus dem Falstaff: ”Te lo cornifico netto netto!” (a-moll – F-Dur Kadenz). Bsp. 198 In Verdis Musik ist dieser äußerst komplexe ”Farbakkord”, der vielleicht zugleich der schönste ist (siehe Bsp. 197 oben), als Durdreiklang mit zwei zusätzlichen Elementen gebaut: der Septime a, die unterhalb des Grundtons erklingt, und der großen Sexte gis, die oberhalb liegt. Die Beziehung zwischen diesen beiden Tönen (a-gis) ist die einer Septime. Historisch gesehen entwickelte sich Verdis Farbakkord aus dem ”Dominant-Akkord”. Es ist interessant zu beobachten, daß auch Debussy diesen Akkord bevorzugte; so z. B. in La Mer. Die ”akustische” Skala der Melodie erscheint oberhalb eines Septakkords (h-dis-a; a=Sept), und der Spitzenton ist gis (die große Sexte über dem Grundton). Bsp. 199 Man erhält einen Begriff von der Bedeutung dieses Farbakkords, wenn man sich Vorkommen wie die ”diatonische” Form des Fugenthemas in Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta (vierter Satz, Takt 204) in Erinnerung ruft. Die ”akustische” Tonleiter auf c wird von zwei Orgelpunkten begleitet: der großen Sext oberhalb des Grundtons (a) und der Sept unterhalb des Grundtons (b). Bsp. 200
* Der stärkste Kontrast entsteht durch die komplementären Tonarten (siehe hierzu Bsp. 46-50). Nach einem Dominantseptakkord (G7) erwartet man als Tonika entweder C-Dur oder c-moll. C-Dur kann durch e-moll ersetzt werden und c-moll durch As-Dur. Das Befehls-Motiv im Tristan (”Befehlen ließ...”) wird durch einen dominantischen G7-Akkord eingeleitet, gefolgt von den Substitutionsakkorden e-moll und As-Dur – anstelle von C-Dur oder c-moll. Die e-moll- und As-Dur-Dreiklänge verbinden sich, wie wir wissen, zu einem Modell 1:3. Bsp. 201 Das Eröffnungsthema aus Bartóks Viertem Streichquartett ist eine wahre Herausforderung für Ästheten: Die Takte 1-2 und 3-4 stellen eine Frage/Antwort-Beziehung her; daher entspricht der Schluß des zweiten Taktes mit dem traditionellen Halbschluß. (Es ist hier zu bemerken, daß in Takt 1-2 die Viola schweigt und auf diese Weise ein Gegensatz – eine ”Spaltung” – zwischen den Geigen und dem Cello erzeugt wird.) Am Ende von Takt 2 findet man in dem Cello einen h-moll-Dreiklang (den Substitutionsakkord der Dominante G-Dur), und in den Geigen einen Es-Dur-Dreiklang (den Substitutionsakkord der Dominante g-moll). Die Folge ist, daß sich die beiden Substitutionsakkorde zu einem Modell 1:3 verbinden. Der Klangcharakter ist bestimmt durch die Tatsache, daß in diesem Fall das Modell 1:3 aus zwei getrennten übermäßigen Dreiklängen besteht: Bsp. 203 Dieselbe Verbindung von Es-Dur und h-moll findet sich auch im zweiten Satz der Tanzsuite, und zwar bei Eintritt des Ritornellos! Darüberhinaus ist das Thema selbst in G angelegt, das hier modalen Charakter annimmt. In romantischer Musik erscheinen individuelle Harmonien nicht als ”Atome”, sondern als Elemente eines ”Riesenmoleküls”. (Dies sei verstanden als eine Zusammensetzung von Tönen, die in organischer Struktur und Einheitlichkeit resultiert.) In ihm hängen alle Partikel miteinander zusammen und sind eng verknüpft; und konsequenterweise hat dann jeder Akkord eine organische Verbindung zu jedem anderen. Beginnen wir mit einer Dur-Melodie, z.B. Es-Dur. Der Substitutionsakkord der Tonika ist g-moll, die Paralleltonart c-moll. Bsp. 205 Hier ergibt sich die Frage, welches der Akkord ist, der eine Verbindung zwischen diesen beiden Dreiklängen (d.h. zwischen g-moll und c-moll) herstellen könnte. Die ”komplementäre” Tonart zu c-moll ist Fes-Dur, und die ”polare” Tonart zu g-moll ist ebenfalls Fes-Dur (sechs Vorzeichen Unterschied): Bsp. 206 Die aus Verdis Aida zitierte Melodie besteht aus den vier oben aufgezeichneten Akkorden. Selbst die Schlußkadenz am Ende von Takt 4 enthält einen g-moll-Akkord. (Zusätzlich mischt sich der polare Septakkord fes-as-d in den Dominantseptakkord auf b.) Bsp. 207 Wählt man nun ein Mollthema, z.B. eines in c-moll. In diesem Fall ist der Substitutionsakkord As-Dur (ein negativer Substitutionsakkord), und die Paralleltonart von As-Dur ist f-moll. Bsp. 208 Diesmal ist A-Dur das Verbindungsglied zwischen f-moll und c-moll, denn der A-Dur-Dreiklang ist zugleich der komplementäre Akkord zu f-moll und der polare Akkord zu c-moll (wiederum sechs Vorzeichen Unterschied). Bsp. 209 Wir zitierten schon das Todesmotiv aus Wagners Tristan (Bsp. 126). Die Grundtonart ist dort c-moll, und die Struktur des Themas wird von den oben beschriebenen Akkorden bestimmt. In unserem ersten Beispiel dominiert der ”positive” Substitutionsakkord, im zweiten Beispiel dagegen der ”negative”. Darüberhinaus beginnen beide Beispiele mit dem Substitutionsakkord der Tonika. Im Verdi-Beispiel finden sich die Akkorde der Tonika und Dominante, im Wagner-Beispiel dagegen die der Tonika und Subdominante. Selbstverständlich prädestiniert diese Dualität den Inhalt, den Charakter, die Farbe und sogar den ”Lebensstil” der beiden Melodien. Auf der Basis einer Analyse romantischer
Musik kann man von einer überraschenden Häufung – wenn nicht
gar von einem Überwiegen – der Substitutionsakkorde sprechen,
die, stellt man die der romantischen Harmonik inhärente Vieldeutigkeit
in Rechnung, etwas Entscheidendes über Verdis und Wagners ”doppelsinnige”
Harmonien aussagt.
Ich neige zu der Überzeugung, daß es zwei linguistische Elemente waren, die die Entwicklung des dialektischen Systems der westlichen Musik ermöglichten: die Entdeckung des Phänomens von ”Spannung–Auflösung” in Tonalität und Atonalität, und die Entdeckung polymodaler Spannungen. Es wird Bach zugeschrieben, die Samen für die Musik zweier Jahrhunderte gesät zu haben. Die allererste Phrase der Johannes-Passion legt hierfür Zeugnis ab. Wenn das ”göttliche” Element dem ”teuflischen” gegenübergestellt wird, was tut Bach anderes, als die Idee der Tonalität mit der der Atonalität zu konfrontieren: Jesus wird durch den nächsten natürlichen Oberton, die reine Quint, repräsentiert, während das Symbol für Judas das der verminderten Quint ist – ein Intervall, das das Distanzprinzip in direktester Weise ausdrückt, da es das tonale System symmetrisch halbiert. (Siehe hierzu auch den verminderten Septakkord, der den Quintenzirkel vierteilt.) Bsp. 210 Das für die westliche Musik charakteristische
Phänomen von Spannung und Auflösung hätte sich kaum entwickeln
können ohne den Antagonismus des tonalen Prinzips mit dem Distanz-Prinzip.
Es geht hier um einen uralten Kampf zwischen
Dieser Gegensatz wurde zur entscheidenden impulsgebenden Kraft der europäischen Musik. Der charakteristische Spannungsakkord der Barockmusik Bsp. 211 ist vertreten durch eben jenen verminderten Septakkord, der den Quintenzirkel um das Symmetriezentrum RE bzw. SI unterteilt. (Siehe hierzu auch das erste Diagramm unter Bsp. 217.) Jede Tonart hat demzufolge ein ”tonales” und ein ”symmetrisches” Zentrum; in E-Dur z.B. ist das tonale Zentrum e, während die Symmetrieachse der E-Dur-Tonleiter fis-c ist. Doch ist das Konzept von Konsonanz und Dissonanz nur eines der Strukturelemente dieser tonalen Welt. Das andere Element ist jenes Spannungsprinzip, das durch polymodales Denken ermöglicht wird. Bei den ersten Worten Jesu in der Johannes-Passion gewinnen wir das Gefühl, als habe sich die Luft um uns herum verdünnt, da Bach das Wunder greifbar macht, indem er die F-Dur-Harmonie mit dem drei Vorzeichen höher gelegenen D-Dur ersetzt. Dies ist dieselbe Erhöhung, die in unserem ersten Verdi-Beispiel (Bsp. 112) den Klang ”aufhellte”. Bsp. 212
* Als Zusammenfassung sei hier auf den Hauptgedanken des Otello, das ”Kußthema”, verweisen, das in konzentrierter Form alles oben Gesagte enthält. (Es taucht beinahe wörtlich genommen aus dem ”Meer” auf: siehe die Töne cis-e-g-ais.) Die modale Struktur des Themas kann als Musterbeispiel dienen. Um von E-Dur ins parallele cis-moll oder das parallele ais-submoll überzugehen, muß man die Quint von E-Dur – die Stufe SO – nach LA oder FI (d.h. den Ton h nach cis oder ais) verschieben. Der Eröffnungstakt des Kußthemas ist beinahe eine Verkörperung dieses Prinzips. Bsp. 214 Die wahrhaft treibende Kraft der Melodie liegt jedoch in den polymodalen Wechseln, und zwar in den potentiellen Unterschieden zwischen E-Dur/e-moll und Cis-Dur/cis-moll/cis-submoll. Bsp. 215 Von Takt 4 an (siehe Bsp.
213) alternieren Durcharakter und Mollcharakter periodisch: im Baß
wechseln sich MI und MA taktweise ab.
Diese beiden Substitutionsakkorde (gis-moll und C-Dur) bilden zusammen das Modell 1:3 und heben insofern aufgrund des atonalen Charakters dieses Modells gegenseitig die jeweils andere Tonart auf. Auch das Symbol von Otellos Begeisterung, der Aufstieg zum DI (eis), spielt im Thema eine wichtige konstruktive Rolle; siehe die Mitte der Melodielinie in Takt 4. Weiterhin sollte der Gegensatz zwischen dem FI (ais) in Takt 2 und dem FA (a) in Takt 3 bemerkt werden. Der Wechsel von FI nach FA ist eines der merkwürdigsten Phänomene in der romantischen Harmonik (siehe auch S. 164-165): es ergibt einen ”Bruch”: eine emotionale Depression oder Trauma. Und umgekehrt, die Reihenfolge der Töne FA–FI ist ein Zeichen für eine ”Flut”.***) Takt 4 enthält in der Mitte einen LA-DI-MI- (Cis-Dur-) Dreiklang, der darauffolgende Takt 5 dahingegen einen DO-MA-SO- (e-moll-) Dreiklang. Hier handelt es sich wiederum um einen Unterschied von sechs Vorzeichen. Es ist oft beobachtet worden, daß in Verdis und Wagners Musik die ”Erfüllung” in der großen Sext über der Tonika verwirklicht wird; wir haben diese als ”pastorale Sext” bezeichnet. Auch im Kußthema geschieht die Erfüllung auf diese Weise, und zwar auf dem Höhepunkt in Takt 6! Madáchs Psychologie trifft auf das der Erfüllung folgende düstere C-Dur zu: ”Der Preis für die Süße des Kusses ist die ihm folgende Gedrücktheit.” (Übrigens ist das MI-RE-DO-Motiv, das das Thema nach einem eingeschobenen C-Dur abrundet und die pentatonische Skala von Takt 6 verlängert, in diesem Werk durchwegs das Symbol von Beruhigung.) Die pentatonische Leiter, um die es hier geht (Bsp. 216) erzeugt eine Gegenpol-Beziehung zum pentatonischen Eröffnungsakkord des Werkes (seihe hierzu Bsp. 95 oben): So spiegeln also Beginn und Ende der Oper
eine Pol/Gegenpol-Beziehung.
Wir haben festgestellt, daß Asymmetrie mit tonalen Beziehungen gekoppelt ist, Symmetrie aber mit atonalen. Das Symmetriezentrum unseres tonalen Systems wird durch die Stufe RE konstituiert. Wenn wir den Quintenzirkel symmetrisch entlang der zentralen Note RE teilen – so erhalten wir die Tritoni RE-SI und FA-TI (siehe die erste Zeichnung unten). Es ist kein Zufall, daß die Rolle der dissonanten ”empfindsamen Töne” durch die Tritoni TI-FA in Dur und SI-RE in Moll übernommen werden. Auf diese Weise entstanden die LEITTÖNE. Innerhalb dieses Systems wird die PENTATONIK durch die fünf oberen Noten repräsentiert (siehe die zweite Zeichnung im Beispiel oben). Von diesem Fünftonsystem kommt man zum Siebentonsystem, indem man die Pentatonik jeweils oberhalb und unterhalb der Endpunkte um eine Stufe erweitert. Die so erzielten neuen Eckpunkte FA und TI treten dabei zueinander in Tritonbeziehung (dritte Zeichnung) und erzeugen so die ”spannungsvollsten” Punkte der Skala. Wenn man RE als Zentrum für die Zeichnung des Quintenzirkels angenommen hat, so füllt die Durtonleiter also den oberen Bogen des Zirkels. Die übrigen Noten erzeugen wiederum eine Pentatonik. Auf diese Weise verhalten sich also die pentatonische und die Durtonleiter komplementär zueinander. Die AKUSTISCHE Tonleiter (und Harmonie) wurde zum statischen ”Farb”-Akkord, weil sie die beiden ”empfindsamen” Noten, die die Durtonleiter kennzeichnen, ausspart; siehe TI und FA in der vierten Zeichnung oben. In diesem Sinne kann also die Durtonleiter als ”spannungsvolle” Skala bezeichnet werden. Streicht man die ”atonalen” Stufen aus der ersten Zeichnung aus dem Zwölfstufensystem, so entsteht Modell 1:2, die Grundskala der Bartókschen Chromatik. Dies ist die Achtstufenskala DO-DI-MA-MI-FI-SO-LA-TA. Die beiden statischsten Punkte unseres tonalen Systems, DO und MI, sind zugleich die ”asymmetrischen” Punkte des Systems (siehe die fünfte Zeichnung im Beispiel oben). DO und MI bilden eine Großterzbeziehung. Fassen wir nun die grundsätzlichen
Phänomene der ”polymodalen Chromatik”, wie Bartók selbst seinen
Kompositionsstil bezeichnete, zusammen auf der Basis der Position,
die die zwölf Stufen im System einnehmen. Gruppiert man die zwölf
Noten der chromatischen Tonleiter in symmetrische Paare (in Bezug auf das
zentrale RE), so kann die Bedeutung der individuellen Stufen wie folgt
beschrieben werden:
Die vier polymodal färbenden Elemente
– DI, MA, FI und TA – ermöglichen die folgenden Kombinationen:
Die vorliegende Untersuchung hat es unternommen, den Stellenwert der ”relativen Solmisation” innerhalb der Musikwissenschaft zu definieren. Soweit es mich betrifft, so bin ich überzeugt, daß diese Methode das fehlende Glied darstellt, das abstrakte theoretische Forschung mit lebendiger Musik verbinden könnte. Nach Eddington wissen theoretische Mathematiker, die mit selbsterfundenen Symbolen arbeiten, nie, was sie tun. Es ist die Aufgabe der praktischen Physiker zu erkennen, daß das Herumspielen mit Buchstaben Struktursysteme abbilden oder beschreiben könnte, die ihnen Kenntnisse über die existierende physikalische Welt vermitteln. Ausgerüstet mit dem abstrakten Bauplan durchdringen sie die einst unergründlich erscheinende äußere Wirklichkeit - deren Funktion und Wesen mit traditionellen Mitteln nicht zugänglich, sondern jenseits ihres Verständnisvermögens wären. Mit Hilfe der scheinbar primitiven Symbole der relativen Solmisation habe ich versucht, eine Karte der musikalischen Welt zu zeichnen. Diese musikalische Welt manifestiert sich grundsätzlich in diesen Symbolen - vorausgesetzt wir wissen, worauf sich die Prozesse beziehen. Ich betrachte Kodálys Konzept, das auf unserer Fähigkeit basiert, jedwede Tonhöhe in Bezug auf ein tonales Zentrum zu identifizieren, als einen Schlüssel. Dieser Schlüssel ermöglicht es uns, jene Grenze abzubauen, die die Theorie von der alltäglichen Erfahrung trennt, und führt uns direkt zu Form und Inhalt der Musik; gleichzeitig eignet es sich auch für die historische Analyse des musikalischen Materials.
*) * Zur umgekehrten Wendung mit aufsteigender kleiner Sekunde siehe Bsp. 191 (Hrsg.) **) Bezüglich des Schritts von FA nach MI siehe im letzten Kapitel (Hrsg.) ***) Auch die vierte polymodale Alteration (TA) ist hier zu finden; siehe das d in Takt 4 (Anm. d. Hrsg.)
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