DAS ETHOS DES ACHSENSYSTEMS
(Tonaler Serialismus)
Vergleiche sind von Natur aus irreführend.
Dennoch möchte ich die folgende – komparative – Behauptung wagen:
Klassische Harmonik verhält sich zu modaler Harmonik wie das geozentrische
Weltbild zum heliozentrischen. Arrangieren wir einmal die Tonarten der
Jupiter-Sinfonie
im Quintenzirkel. Nach traditioneller Abbildungsart würde die Tonika
c
den höchsten Punkt des Kreises bezeichnen und damit das Symmetriezentrum
des Systems.
Doch sind wir früher zu der Schlußfolgerung
gekommen – und ein Blick auf die Klaviatur mit ihren weißen und schwarzen
Tasten hilft zusätzlich dem Verständnis – daß die Symmetrieachse
der C-Dur-Tonleiter nicht etwa c ist, sondern d (oder as).
Es sind dies die Töne, in Beziehung zu denen jede Stufe der C-Dur-Tonleiter
ein symmetrisches Gegenstück sowohl oberhalb als auch unterhalb hat.
Außerdem sind, wie aus dem Beispiel 219 ersichtlich
wird, F-Dur mit einem B-Vorzeichen und e-moll mit einem Kreuz-Vorzeichen
(oder H-Dur mit fünf Kreuzen und b-moll mit fünf Bs) symmetrische
Gegenbilder in Bezug auf das Zentrum d.
Wäre es daher nicht angebrachter,
in einer Abbildung des Quintenzirkels das d an den obersten Punkt
zu stellen und das as an den tiefsten? Man könnte dann die
tatsächliche Beziehung zwischen den Tönen wie folgt darstellen:
Bsp. 218
Als nächstes wollen wir die im obigen
Beispiel vorkommenden Quinten durch ihre ”korrespondierenden” Tonarten
ersetzen. In der oberen Kreishälfte gehören der F-Dur- und der
d-moll-Akkord sowie der G-Dur- und der e-moll-Akkord zur C-Dur-
(oder a-moll-)Tonleiter. Ähnlich gehören in der unteren
Kreishälfte der Des-Dur- und der b-moll-Dreiklang sowie der H-Dur-
und der as(gis)-moll-Dreiklang zur Ges/Fis-Dur- bzw. es-moll-Tonleiter.
Die Paralleltonarten C-Dur und a-moll
beruhen auf denselben Noten und, wie aus Bsp. 219
ersichtlich wird, haben
gleiches Gewicht.
Die so erzielte Symmetrie bleibt fehlerlos,
auch wenn die Durdreiklänge durch die gleichnamigen Molldreiklänge
ersetzt werden und umgekehrt. So haben z.B. die d-moll und G-Dur
ersetzenden Dreiklänge D-Dur und g-moll nach wie vor symmetrische
Position mit Beziehung auf das Zentrum d. Die folgende Figur wird von hier
an als ”Grundformel” unseres Systems bezeichnet werden.
Bsp. 219
die Grundformel unseres Kapitels
Als Untersuchungsobjekt wurde Verdis
Don
Carlos gewählt. (Leider muß hier eine skizzenhafte Zusammenfassung
genügen, da eine detaillierte Analyse einen eigenen Band erfordern
würde.)
Nach unserer Grundformel ist
B-Dur das symmetrische Gegenstück zu h-moll.
Ist es nicht erstaunlich, daß die
Oper in B-Dur (mit zwei B-Vorzeichen) beginnt und in h-moll
(mit zwei Kreuz-Vorzeichen) endet? Oder, wie kommt es, daß in der
nächtlichen Gartenszene die mäßigende Wirkung des F-Dur-Terzetts
gefolgt wird von der e-moll-Rachearie der Eboli? Und was macht diese
Wirkung so besonders überzeugend? Wie gezeigt wurde, ist
F-Dur der Spiegelakkord von e-moll.
Dem dramatischen Wendepunkt des Dialogs
zwischen Posa und Filippo, der durch Filippos Geständnis in f-moll
herbeigeführt wird, geht ebenfalls ein ”Farb”-Spiel in E-Dur
voraus. Zwischen dem Gedanken an Carlos’ ”Rettung” in As-Dur (Ebolis
Arie) und Carlos’ ”Sturz” in cis-moll besteht eine ähnliche
Beziehung (siehe die Grundformel). Im Anschluß an Posas Des-Dur
Abschied bricht die Revolution, auffallenderweise in as-moll aus
– in diesem System ist
Des-Dur das Gegenstück von as-moll.
Verdi selbst liefert den Schlüssel
zu diesem Ton-Rätsel; er legt sozusagen den Schlüssel in unsere
Hände. Der Schlüssel-Satz wird vom ”Mönch” gesungen, dessen
anonyme Verkleidung den für das Kloster bestimmten Karl V. verbirgt.
Die erste Hälfte dieses Satzes handelt von ”weltlichen Sorgen,” die
zweite Hälfte von ”himmlischem Trost.” Der die irdischen Belange repräsentierenden
Tonart Ces-Dur steht b-moll als auf Himmlisches verweisende
Tonart gegenüber. Wie wir uns erneut anhand der Grundformel vergewissern
können, ist b-moll das Spiegelbild von Ces-Dur:
Bsp. 220
Übrigens hat Verdi selbst dieses
System in seinen Spätwerken zur Vervollkommnung gebracht. Wollte man
die Tonarten und Themen des Don Carlos ”katalogisieren”, so würde
man nicht nur die besondere Bedeutung jeder einzelnen Tonart entdecken,
sondern auch die multidimensionalen Beziehungen zwischen den Tonarten.
Als Beispiel mag hier der d-moll-Dreiklang dienen, der die folgenden
Eigenschaften hat:
symmetrisches Gegenstück (s. Grundformel)
zu
|
G-Dur
|
Gegenpol von
|
as-moll
|
Paralleltonart von
|
F-Dur
|
Substitutionsakkord von
|
B-Dur
|
komplementäre (annihilierende)
Tonart von
|
Fis-Dur
|
gleichnamige Tonart von
|
D-Dur
|
polare Tonart (6 Vorzeichen Unterschied)
von
|
H-Dur
|
funktionale Bedeutung:
|
Subdominante
|
modale Dominante von
|
E Dur, usw.
|
|
|
Es ändert sich also die Bedeutung
eines Akkords mit seiner Beziehung zu einer anderen Harmonie. Im Falle
der Gegenpole gleicht sich der Unterschied von ”plus 6 Vorzeichen” / ”minus
6 Vorzeichen” aus, so daß sie notwendigerweise das Vorhandensein
gemeinsamer Züge aufweisen. Die beiden Hälften der Grundformel
(ob nun die obere und untere Hälfte oder auch die rechte und linke
Hälfte) verbergen überraschende Symbole.
Jede der unten gegebenen Tabellen repräsentiert
eine spezifische tonale und, noch wichtiger, eine inhaltliche Beziehung.
Jede der 24 Tonarten kann 23 direkte Verbindungen mit den übrigen
möglichen Tonarten eingehen. Außerdem muß man auch erkennen,
daß zweit- und drittgradige Beziehungen notgedrungen identische Ergebnisse
hervorbringen – in der Tat verstärken sie einander sogar! In anderen
Worten, wüßten wir die ”Bedeutung” von 23 Tonarten, so könnten
wir die der unbekannten 24. Tonart aus diesen Beziehungen erschließen.
Es folgt demnach, daß das System
nur dann gültig ist, wenn jede Dimension verifiziert und durch den
dramaturgischen Inhalt oder die poetische Bedeutung bestätigt worden
ist. Unsere ”serielle” Untersuchung – unser musikalischer ”Rubik-Würfel”,
wie er in den Tabellen unten aufscheint – basiert auf der Fünfakt-Version
des Don Carlos von 1886 (Edition Ricordi, 1982). Die Tonika ist
C-Dur.
POL/GEGENPOL-BEZIEHUNGEN
C-Dur: |
Zentrum der ”physikalischen” Welt, fester Boden, Abbild
der greifbaren
Wirklichkeit, natürliches Licht, dessen Element
der musikalische ”Raum” ist. |
Fis-Dur: |
Zentrum der transzendenten Welt, Grunderlebnis ”spiritueller
”
Existenz: der Tempel der Religion, Stabilität und
Unbewegbarkeit. |
a-moll: |
Grundausdruck der Leidenschaft: geladen mit Gefühlsdynamik;
Spannung meist durch den ”zeit”-lichen Ablauf der Musik. |
es-moll: |
Vermittler mystischer Erfahrungen, häufig Offenbarung
der durch
die Ferne bedingten Einsamkeit, auf Gefühlen beruhende
Religiosität, Verlangen nach Ewigkeit, Sich-Hinwegsehnen. |
c-moll: |
Dunkle Leidenschaft, Verzweiflung, emotionales
Aufbegehren, Opposition zur herrschenden Weltordnung. |
fis-moll: |
Unerlöstheit; unheilbarer, herzbeklemmender Schmerz
(z.B. zu Beginn des zweiten Aktes). |
A-Dur: |
Heiterkeit durch sinnliche Eindrücke (Wohlgeschmack,
Schönheitsliebe,
Bejahen alles dessen, was gut und edel ist), Begeisterung.
Sinnestäuschungen
(im Lied vom Schleier); siehe auch Posas sinnliches Manöver
(seine A-Dur-Romanze in der Hofszene des zweiten Aktes). |
Es-Dur: |
Humanes Verständnis (Abbild nicht des aktiven, sondern
des kontemplativen
Lebens); geistig-menschliche Würde, Seelenweisheit,
Freundschaft. |
G-Dur: |
Lebenskraft, aktiver Handlungswille, unmittelbare Wirkung,
oftmals Erfolgserlebnis. |
Des-Dur: |
Erfüllung durch Liebe - oder durch erlösenden
Tod (frei von jedweder aktiven Handlung. |
E-Dur: |
Äußere Größe und Kraft, Vorherrschaft
des Willens, königliche
Pracht: schwerer, festlicher Prunk (siehe die Auto-da-fé-Szene). |
B-Dur: |
Bild der Schönheit (gegebenenfalls äußerlicher,
mondäner Glitter);
Anziehungskraft durch direkten ”Eindruck”. |
g-moll: |
Versagen im Beruf; Fiasko, Niederlage im gesellschaftlichen
Leben. |
cis-moll: |
Unglück durch äußere Gewalttätigkeit
(z.B. gewaltsamen Tod): Ebolis Sturz,
Posas Trauermusik, das Brechen von Elisabeths Widerstand
im fünften Akt. |
e-moll: |
Erhöhung durch physikalische Schwerelosigkeit, Körperlosigkeit;
die Aufhebung von Einschränkungen (z.B. gesellschaftlicher
Art). |
b-moll: |
Aktive Erhöhung durch ein transzendentales (religiöses)
Erlebnis;
manchmal heiliger Zorn; Berufung (mit Anzeichen von Aggresivität
im Falle des Großinquisitors). |
F-Dur: |
Schatteneffekt erzeugt durch eine aktive Kraft (wobei
die dunkle Farbe in Form einer wirksamen und gestaltenden Kraft erscheint);
auch Abbild hartgewonnener Ruhe. |
H-Dur: |
Menschliche Sorgen, Verzicht auf die Eitelkeit der Welt,
oder Resignation;
die Last der körperlichen Existenz (z.B. das Abschiedsduett
in Ces-Dur). |
D-Dur: |
Ein durch Willensfaktoren gegen Widerstand erzieltes
Ergebnis,
oder ein durch Geburtsrang, Privileg, Schlauheit oder
Geschicklichkeit erzielter Vorteil; auch höfische
Manieren. |
As-Dur: |
Heldenmut auf Kosten von Selbstaufopferung; hymnisches
Sich-Ausbreiten. |
f-moll: |
Innerliches Grübeln, Zweifel, Neigung zu Selbstquälerei:
die Vorherrschaft psychischer Aspekte. |
h-moll: |
Nicht-menschliche, durch Schicksal oder Gesetz bestimmte
Ereignisse;
unvermeidliche und unbeeinflussbare – schicksalshafte
– Wendungen
(in milderer Form: die festgeschriebene Ordnung höfischer
Etikette). |
d-moll: |
Vernichtetsein: toter Punkt, bedingt durch die Abwesenheit
treibender
Kräfte; tötlicher und bewußtloser Traum
(Filippos Arie). |
as-moll: |
Vernichtung durch ”Verbrennung”: Aufruhr und destruktive
Instinkte (z.B. in der Revolutionsszene). |
DIE SYMMETRISCHEN ENTSPRECHUNGEN INNERHALB
DES SYSTEMS
C-Dur: |
Grunderlebnis der ursprünglichen Erfahrung von
existenz, die sichtbare (sinnlich erfahrbare) Welt. |
a-moll: |
Elementare Manifestation der Leidenschaft. |
es-moll: |
Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, Verlangen nach mystischer
Erfahrung;
uralt und heroisch, entfernt und geheimnisvoll wie die
Tasso-Gesänge. |
Fis-Dur: |
Glaube als Sicherheit; Glaube an die spirituelle Existenz. |
G-Dur: |
Positive und unmittelbare Wirkung; die spontane, aktive
Manifestation von Willen und Bewußtsein. |
d-moll: |
Passive Ruhe, Neigung zur Melancholie; die Stille von
Vernichtung und Untergang. |
as-moll: |
Umsturz der existierenden Weltordnung; Umwälzung,
Revolution, destruktive Kräfte. |
Des-Dur: |
Glück (oder sogar glückvoller Tod), die ”Kunst”
ultimaler
Liebe; Gefühlsadel und emotionale Überlegenheit. |
F-Dur: |
Natürliche Schwerkraft, Gedankentiefe oder große
Ruhe;
oft ein Schatteneffekt, der zum Hervorheben des Lichteffekts
dient. |
e-moll: |
Physikalische Schwerelosigkeit – oder Absprung von der
Wirklichkeit (letzterer auch
in Form spiritueller Trunkenheit, wie in Ebolis Racheschwur
in der Gartenszene). |
b-moll: |
Transzendente Erhöhung, Ekstase der Seele. |
H-Dur: |
Das Aufgeben weltlicher Gedanken durch Verzicht. |
c-moll: |
Verblendete Leidenschaft, ein fieberhafter Zustand:
fanatische Heftigkeit, Herausforderung und Zornesausbruch
(siehe ”l'ora fatale”, die Vorbereitung für die
Fontainebleau-Szene). |
A-Dur: |
Begeisterung, Hingerissenheit, Ergebenheit, geistige
Erhöhung. |
Es-Dur: |
Seelen-Harmonie, guter Wille und Wärme, Mitgefühl
(Teilen der Sorgen anderer), Dienst an der Menschheit. |
fis-moll: |
Trauer und Qual der Seele, Herzschmerz; brennend-leidender
Gefühlszustand (sogar das Gewicht eines Fluches). |
g-moll: |
Mißerfolg, vereitelte Wünsche, Niederlage
(Konflikt mit gesellschaftlichen Gesetzen oder Konventionen). |
D-Dur: |
Erfolgserlebnis (z.B. ein erfolgreicher Auftritt bei
Hofe), Beförderung und Glück
im gesellschaftlichen Leben, Triumph über das eigene
Ich oder über andere. |
As-Dur: |
Selbstlose Tat, zu hymnischer Stufe erhobenes Opfer;
endgültiger
Ruf zum Humanismus, für den man sogar bereit sein
muß zu sterben
(siehe den Friedensgesang in der Auto-da-fé-Szene). |
cis-moll: |
Gewalt über andere; Opfer roher Willkür; durch
Tyrannei herbeigeführte Tragödie; tiefe Trauer. |
f-moll: |
Selbstqual oder Gewissensbisse, Introversion;
Grübelei, Ängstlichkeit, Selbstvorwürfe. |
E-Dur: |
Äußere Zeichen der Macht; künstliches
Licht, Pomp; Energie
und Lebenskraft (auch in Form übertriebener Kraftproben). |
B-Dur: |
Zauber der Schönheit (äußerliche Schönheit),
freudevolles
Erlebnis, festliche Fröhlichkeit, Liebe zum Leben. |
h-moll: |
Atmosphäre von Tragik: zwingende Kraft einer äußeren,
eisernen Macht;
in den Sternen geschriebene Determination; unausweichliche
Fatalität oder streng geregelte Ordnung (z.B. die
strikten Regeln der Etikette). |
BEZIEHUNGEN ZWISCHEN GLEICHNAMINGEN
DUR- UND MOLLTONARTEN
Im Falle der Dur- und Moll-Tonarten auf demselben Grundton
gehört eine der beiden Tonarten stets zur Familie der ”natürlichen”
Tonarten, und die andere zu der der ”modifizierten”. So unterscheidet sich
zum Beispiel C-Dur von c-moll dadurch, daß das natürliche DO-MI-SO
zu DO-MA-SO verändert ist.
C-Dur: |
Statische Kraft; selbstverständliche, volkstümliche
Natürlichkeit. |
c-moll: |
Aufrührerischer Trotz, wütendes Temperament,
besessen und heftig, nicht zu bändigen und zu allem
fähig. |
G-Dur: |
Hoffnung, Lebenskraft, Selbstbewußtsein,
Tatendrang, Sich-Durchsetzen. |
g-moll: |
Blamage, Fiasko, gesellschaftliche Schmach
(Ehrverlust, Herabsetzung, Brandmarkung). |
D-Dur: |
Sieg über etwas, Sich-Erheben über das Alltägliche
oder über die Instinkte. |
d-moll: |
Passivität, das Fehlen oder die totale Erschöpfung
der Lebenskräfte,
Vergessen, Sehnsucht nach Traum; Ermüdung durch
zu große Last. |
A-Dur: |
Gehobener Geist – wo die Stimme eine ”impressionistische”
Farbe hat. |
a-moll: |
Leidenschaft oder ”Expressivität” – wo die Stimme
eine emotionale Farbe hat. |
E-Dur: |
Größe und Gewicht: die Gewalt der Massen,
Luxus, schwerer Prunk,
spektakuläre Zeremonien, Autorität (massive,
schwere Kräfte). |
e-moll: |
Körperloses Schweben, Schwerelosigkeit, Luftigkeit
(aber auch eine erhobene und verschärfte Stimme). |
H-Dur: |
Die Sphäre weltlicher Belange, Sich-Ergeben, passives
Annehmen des Unvermeidbaren, Versöhnung mit dem
Schicksal. |
h-moll: |
Strenge und gnadenlose Macht, höhere Autorität,
der nicht ausgewichen
werden kann; oder auch: die Fesseln der Konventionen
und höfischen Sitten. |
Fis-Dur: |
Der Tempel des ewigen Lebens. |
fis-moll: |
Die Armseligkeit irdischer Existenz. |
Des-Dur: |
Wunscherfüllung – Seligkeit. |
cis-moll: |
Gebrochene Existenz (physischer Tod und Trauer). |
As-Dur: |
Erlösung durch Selbstüberwindung: Absolution. |
as-moll: |
Verlodern durch Selbstzerstörung; Aufruhr, Rebellion
gegen die Ordnung. |
Es-Dur: |
Hehre Gedanken: Liebe und Mitleid, Glauben an die
Menschheit, freundschaftliche Ergebenheit. |
es-moll: |
Geheimnis, Fremdheit, Sich-Hinwegsehnen, Einsamkeit. |
B-Dur: |
Verlockende Anziehungskraft (mittels einer verfeinerten
äußerlichen Erscheinung); begehrenerregende
eitle Schönheit;
Fest- und Feierfreude (siehe z.B. die königliche
Jagd). |
b-moll: |
Anziehungskraft des überirdischen Lebens; irrationale
Wünsche. |
F-Dur: |
Wohlverdiente Ruhe nach einer Zeit der Sorgen und
Schwierigkeiten; Ideen- und Gedankentiefe. |
f-moll: |
Seelenkonflikt und Grübelei; innere Motivation. |
Denken wir an Beispiele, wie Elisabeths
großer Arie mit den sich abwechselnden fis-moll und Fis-Dur
Strophen, oder an Kontraste, wie Posas Confession in Es-Dur (IV. Akt) und
das sehnsuchtsvolle Unisono in es-moll von Carlos (in der Hofszene
des II. Aktes, bei dem Erscheinen der Hauptperson).
POLARE DUR- UND MOLLAKKORDE
Die durch sechs Vorzeichen unterschiedenen Dur- und Molltonarten
spiegeln inhaltlich denselben Kontrast wie die Pol/Gegenpol-Beziehungen.
Diese Entsprechungen finden sich in unserer ersten Tabelle, wenn die folgenden
Zusammenhänge in Erwägung gezogen werden:
INHALTLICHE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN EINANDER
SUBSTITUIERENDEN TONARTEN
C-Dur und e-moll: |
Materialität und Immaterialität (oft auch
in Form von ”spiritueller Betrunkenheit”). |
G-Dur und h-moll: |
Anfang und Ende: Offenheit und Begrenztheit – letzteres
als dem Schicksal oder der höfischen Etikette ausgesetzt;
Erwachen zum Bewußtsein und tragisches Ende. |
D-Dur und fis-moll: |
Fröhlichkeit und Traurigkeit (der Glanz
und die Bitterkeit des höfischen Lebens). |
A-Dur und cis-moll: |
Sinnliche Anziehungskraft und ihr Zusammenbruch (z.B.
Posas
persönliche Attraktivität und sein anschließender
Sturz). |
E-Dur und as-moll: |
Größe und Verfall; Macht und Revolution. |
H-Dur und es-moll: |
Irdische und himmlische Philosophie; der Verzicht auf
weltliche Begierden und das Wunder des Glaubens. |
Fis-Dur und b-moll: |
Statische Ruhe und hohe Ziele (im Extremfall ein Gefühl
kämpferischer Berufung, wie in der Großinquisitor-Szene). |
Des-Dur und f-moll: |
Erlösung und Reue; sinnliche Befriedigung
und masochistische Tendenzen. |
As-Dur und c-moll: |
Hymnisches und zorniges Wort; konstruktive und destruktive
Instinkte. |
Es-Dur und g-moll: |
Würde und Unwürdigkeit; menschliche Wärme
und Ausgestoßenheit. |
B-Dur und d-moll: |
Eindruck und Ausdruck; körperliche Schönheit
und
Seelenqual; Liebe zum Leben und Niedergedrücktheit. |
F-Dur und a-moll: |
Gedankentiefe und spontane Leidenschaft; Licht und Schatten
der Seele; Schwerkraft durch Ernst und Aufbruch der Gefühle. |
INHALTLICHE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN KOMPLEMENTÄREN
(EINANDER AUFHEBENDEN) TONARTEN
C-Dur und as-moll: |
Existenz und Nichtexistenz. |
G-Dur und es-moll: |
Realität und Phantasie; Selbstbewußtsein und
Intuition;
körperliches Wohlbefinden und Sehsucht nach dem
Jenseits. |
D-Dur und b-moll: |
Hängen am Leben und heiliges Gefühl von Berufung;
diesseitige und jenseitige Sprache (kann als Gegensatz
zwischen höfischem Glanz und heiligem Zorn auftreten). |
A-Dur und f-moll: |
Hoffnung und Zweifel; äußere Heiterkeit und
innerer Konflikt. |
E-Dur und c-moll: |
Macht und Herausforderung der Macht. |
H-Dur und g-moll: |
Resignation und Aufregung. |
Fis-Dur und d-moll: |
Die ewige Ordnung der Theologie und
die Sehnsucht nach Nicht-Existenz. |
Des-Dur und a-moll: |
Passives Sich-Auflockern und aktive Reaktion;
geistige Gehobenheit und Leidenschaft. |
As-Dur und e-moll: |
Bewußtsein der eigenen Berufung und Rausch;
beherrschte und unbeherrschte Handlung (kann auch
der Gegensatz zwischen Ergebenheit und Rache sein). |
Es-Dur und h-moll: |
Menschenorientierte und schicksalsorientierte Welt;
Gegensatz zwischen dem Persönlichen und dem
Unpersönlichen (Menschlichkeit und Unmenschlichkeit). |
B-Dur und fis-moll: |
Glanz und Nachterlebnis; Glück und Todeswunsch. |
F-Dur und cis-moll: |
Gedankentiefe und sinnlose Gewalt. |
FUNKTION
TONIKA-Akkorde repräsentieren statische
Bewegungslosigkeit. Dies trifft nicht nur auf die tonalen Säulen von
C-Dur (und a-moll) oder Fis-Dur (und es-moll) zu, sondern gilt auch für
deren Varianten:
die positiven Akkorde A-Dur und Es-Dur (vom LA-DI-MI-Prinzip)
und |
die negativen Akkorde c-moll und fis-moll (vom DO-MA-SO-Prinzip) |
sind ebenfalls durch die Tatsache charakterisiert,
daß sie nicht weiterentwickelt werden können – kein Weg führt
aus ihnen heraus.
DOMINANT-Akkorde unterscheiden sich von
Tonika-Akkorden durch die ihnen innewohnende, dem Achsensystem gerechtwerdende
”aktive” Kraft. Daher kann man folgende Beziehungen feststellen:
E-Dur |
wurde |
zum Symbol der Macht, |
B-Dur |
|
zum Symbol der Schönheit, |
G-Dur |
|
zum Symbol der Lebenskraft, |
Des-Dur |
|
zum Symbol des Glücks. |
Der Molldominant-Akkord kann eine
Erhebung herbeiführen (wie in den Tonarten e-moll und b-moll), oder
auch eine gewalttätige oder tragische Wendung (wie in cis-moll und
g-moll).
SUBDOMINANT-Akkorde funktionieren ähnlich:
As-Dur |
steht |
für Selbstaufopferung, |
D-Dur |
|
für Adel und Würde, |
F-Dur |
|
für Ruhe und Ernst, |
H-Dur |
|
für spirituellen Frieden. |
Mollsubdominant-Akkorde zeichnen
sich durch Passivität aus:
d-moll |
ist die Tonart |
des Schlafes und der Nichtexistenz, |
as-moll |
|
des vernichtenden Aufruhrs, |
h-moll |
|
der Ausgeliefertheit, |
f-moll |
|
des Zweifels. |
NATÜRLICHE UND MODIFIZIERTE TONARTEN
Die obere Hälfte unserer Grundformel
(siehe
Bsp. 219 zu Beginn dieses Kapitels) stellt
die diatonische (oder Siebenstufen-) Tonleiter dar. Diese enthält
sechs ”perfekte” Dreiklänge:
C-Dur |
und |
a-moll haben keinerlei Vorzeichen, |
G-Dur |
und |
e-moll haben ein Kreuz-Vorzeichen, |
F-Dur |
und |
d-moll haben ein B-Vorzeichen. |
Dies bedeutet:
das ”höchste” Moll: |
e-moll und |
das ”niedrigste” Dur: |
F-Dur |
repräsentieren
den positiven Substitutionsakkord der |
C-Dur-Tonika bzw. |
den negativen Substitutionsakkord der |
a-moll-Tonika. |
All dies gilt in
entsprechender Weise für die untere Hälfte
der Grundformel; in diesem Fall ist Fis = DO.
Wenn man das ”Tongeschlecht” verändert,
d.h. wenn man eine Molltonart anstelle einer gleichnamigen Durtonart setzt
oder umgekehrt, so läßt sich feststellen, daß alle ”natürlichen”
Gedanken den unveränderten Tonarten entsprechen, während die
”stimulierten” Gefühlszustände in den veränderten zu finden
sind.
Selbst in Ebolis Rachemelodie ist e-moll
mit ”natürlichen” (d.h. instinktiven) Gefühlen assoziiert, während
E-Dur ein ”künstliches”, intensifiziertes Licht verbreitet (Auto-da-fé-Szene).
In derselben Weise bezeichnet as-moll Selbstzerstörung, As-Dur jedoch
suggeriert heldenhaften Opfermut auf Kosten des eigenen Lebens (wie im
Finale der Eboli-Arie oder im Friedenslied der Auto-da-fé-Szene).
NB.: Da die ”nächsten” Nachbarn von
C-Dur (F und G) und die von Fis-Dur (Cis und H) zur Kategorie der ”natürlichen”
Tonarten gehören, kann die Zahl der Vorzeichen in den modifizierten
Tonarten 2, 4 oder (in einem extremen Fall) 3 sein.
OBER- UND UNTERBEREICHE
Das System ist ”geschlossen”. Die obere
und untere Hälfte unserer Grundformel sind spiegelbildliche Entsprechungen
von einander. Dies bedeutet, daß z.B. fis-moll dialektisch nicht
nur mit Fis-Dur verwandt ist, sondern auch mit der C-Dur-Tonika.
Im ersten Fall erfahren wir es als einen DO-MA-SO-Akkord, der ”Verzweiflung”
ausdrückt – wie in Elisabeths herzzerreißender Klage (”Ben lo
sapete...”), nachdem das Kästchen aufgebrochen worden ist. In Bezug
auf die C-Dur-Tonika jedoch repräsentiert fis-moll die immateriellste
Harmonie, die in Verdis Musik zu finden ist. Dies ist der Grund, warum
die FI-LA-DI-Formel – Elisabeths fis-moll-Melodie – als derart ”immacolata”
(wie es das Libretto ausdrückt) empfunden wird.
Symbolisch ausgedrückt beziehen sich
die obere und untere Hälfte unserer Grundformel auf einander wie die
empirisch-aristotelische Welt zur platonischen Welt der Ideen.
DIE MÖGLICHKEITEN DES ACHENSYSTEMS
Ein ähnliches ”Wörterbuch” kann
bzgl. der Beziehungen zwischen parallelen Dur- und Molltonarten zusammengestellt
werden – oder, was sogar noch faszinierender wäre, für die zwischen
den axis-bezogenen Dur- und Molltonarten. Hier sei ein Beispiel
erwähnt:
Das freudige B-Dur der königlichen
Jagd im ersten Akt wird in der Liebes-Szene zu Des-Dur transformiert.
(Wenn B-Dur eine DO-MI-SO-Tonika darstellt, so müßte Des-Dur
als ”MA-Dur” interpretiert werden!) Auch im zweiten Akt zeichnen sich die
schönsten Augenblicke des Duetts zwischen Carlos und Elisabeth durch
die B-Dur / Des-Dur-Wendung aus. In der nächtlichen
Gartenszene dagegen passiert genau das Gegenteil: Carlos und Eboli – hinter
Masken versteckt – erklären einander in Des-Dur ihre ”Liebe”; doch
im Augenblick der Demaskierung kehren wir unmittelbar zu B-Dur zurück.
OBERTONBEZIEHUNGEN
Nach klassischer Definition besteht der
Durdreiklang aus den drei nächsten Obertönen des Grundtons,
während der Molldreiklang aus den drei nächstgelegenen Grundtönen
mit demselben Oberton gebildet ist.
Bsp. 221
Dies allein hilft uns zu verstehen, warum
C-Dur
die äußere, sichtbare Welt vertritt und f-moll die innere,
unsichtbare. Benutzt man das obengenannte Prinzip als neue Basis, so entdeckt
man eine neue Dimension unseres tonalen Systems, die auch der ”westlichen”
und ”östlichen” Denkweise entspricht:
C-Dur |
und f-moll: |
Empirische und psychische Welt (c als Zentrum) |
G-Dur |
und c-moll: |
Bestätigung und Ableugnung (g als Zentrum) |
D-Dur |
und g-moll: |
Helle Freudigkeit und dunkle Leidenschaft (d als
Zentrum) |
A-Dur |
und d-moll: |
Wachen und Schlafen |
E-Dur |
und a-moll: |
Unpersönliche Größe und persönliches
Gefühl |
H-Dur |
und e-moll: |
Unbeweglichkeit und Tatendrang |
Fis-Dur |
und h-moll: |
Spirituelle Fluchtburg und blindes Schicksal |
Des-Dur |
und fis-moll: |
Erfüllung und Verlangen (des=cis als
Zentrum) |
As-Dur |
und cis-moll: |
Entwicklung und Versagen (as=gis als Zentrum) |
Es-Dur |
und as-moll: |
Konstruktive (menschliche) und destruktive Kräfte |
B-Dur |
und es-moll: |
Schönheitssinn und Traurigkeit |
F-Dur |
und b-moll: |
Höhe und Tiefe |
*
Ein einziges Beispiel mag hier genügen. Wir wollen eine
a-moll-Melodie mit der Harmonie ihrer parallelen Durtonart, C-Dur, und
deren Substitutionsakkorden F-Dur bzw. e-moll harmonisieren (siehe hierzu
Bsp.
186).
Wenn diese Dreiklänge gegen die jeweils gleichnamigen
des anderen Tongeschlechts ausgetauscht werden (d.h. e-moll durch E-Dur,
C-Dur durch c-moll, a-moll durch A-Dur, und F-Dur durch f-moll), so bleibt,
wie im folgenden Beispiel gezeigt, die Symmetrie unberührt erhalten.
Bsp. 221
Der Abstand zwischen c-moll (mit drei B-Vorzeichen) und
A-Dur (mit drei Kreuz-Vorzeichen) beträgt sechs Vorzeichen, was ihre
polare Stellung spiegelt. F-moll und A-Dur anderseits sind komplementäre,
einander aufhebende Tonarten. Eine ähnliche Beziehung besteht auch
zwischen E-dur und c-moll; die Übereinanderlegung der beiden Akkorde
führt zu einem 1:3 Modell).*)
*) Die Akkorde
f-moll und E-Dur haben eine gemeinsame Terz (mehr hierzu im folgenden Kapitel);
F-Dur ist der Spiegelakkord von e-moll (siehe
S.132) (Hrsg.)
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