SICHER DEN KIEL (Modaler Serialismus)
Der Unterschied zwischen ”tonalem Serialismus” und ”modalem Serialismus” besteht in der Tatsache, daß in ersterem die Vielfalt und Verschiedenheit der vierundzwanzig Dur- und Mollakkorde ausgeschöpft wird, während letzterer die Möglichkeiten der zwölf chromatischen Stufen ausnützt. Die ”Exposition” des ersten Akts in Wagners
Tristan rückt den folgenden Satz in den Blickpunkt:
Die obige Analyse konzentriert sich um fünf Momente: (1) ”Auf jeder Stelle wo ich steh...” Wo steht Tristan? Oberhalb des Strudels: im Höllentor sozusagen (T. 1-4). (2) Und wo steht Isolde? Hinsichtlich Rank hoch über Tristan. Ihr Name ist ”Frauen höchster Ehr'” (T. 5-7). Sie ist König Marke zur Braut bestimmt. (3) Tristans spontaner Reflex: er muß Isoldes Stolz brechen. Genau das impliziert T. 8 mit seinem ohrfeigenartigen MA-Dur-Akkord (Es). (4) Tristan strengt all seine Nerven an (T. 10) – ”er wechselt die Gesichtsfarbe” (T. 12). (5) Wohin kann dieser Weg führen, und wohin lenkt Tristan das Schiff? Über einen mystischen Styxfluß ins Land der Toten. Man betrachte nun jeden dieser Punkte im einzelnen. (1) Der Schritt MI-FA hat die treibende Kraft eines Dampfkochers. Wagner beginnt die Melodie mit a-moll und dessen negativem Substitutionsakkord F-Dur. NB.: der Sturz zu Beginn des Todesmotivs wird auch dadurch herbeigeführt, daß das Motiv, anstelle in die Tonika (LA-DO-MI) zu münden, in den negativen Substitutionsakkord (LA-DO-FA) ausbricht. Die Waage kippt an genau der Stelle, wo sich die beiden Welten treffen – in T. 3: der Übergang ist gekennzeichnet durch die beiden ”atonalen Punkte” unseres tonalen Systems, RE und SI = d und gis (sowie FA-TI = f-h). In Takt 2-3 empfinden wir bereits c-moll als Tonika – was bedeutet, daß der dritte Takt (der verminderte Dominantseptakkord) wie folgt fortgesetzt werden sollte: Bsp. 224 Dagegen löst sich der Akkord in polarer Weise nach A-Dur hin auf (d.h. in die sechs Vorzeichen entfernte Tonart) und tritt damit in einen neuen Bereich ein (T. 4). Der c-moll-Dreiklang selbst manifestiert sich offen in T. 9! (2) Umgekehrt ist die musikalische Entsprechung zu ”Frauen höchster Ehr'” das Vorwärtsstürmen des FI-SO (der Töne fis-g in T. 5-8). Wagner verstärkt den Lichteffekt zusätzlich, indem er T. 5-7 zur Dominante (G) erhöht. Befreit man die Melodie von all ihren Verzierungen, so stellt sich heraus, daß die beiden Überraschungen in der ersten Zeile herbeigeführt werden durch die komplementären
Tonarten f-moll/A-Dur (Tristans Gesichtsfarbe wechselt);
All dies wird durch zwei zusätzliche Elemente erweitert. Die Strophe beginnt mit a-moll und dessen negativem Substitutionsakkord F-Dur. Dies bedeutet in sich eine große Spannungsladung. Doch hält Wagner hier nicht inne: er unterwirft die beiden Akkorde einer ”Ladegewichtsprüfung”, indem er a-moll zu A-Dur (T. 4) und F-Dur zu f-moll (T. 2) verwandelt. Damit aber schafft er die Möglichkeit einer Metamorphose, da die f-moll- und A-Dur-Dreiklänge komplementäre Akkorde sind und einander aufheben, indem sie in Verbindung miteinander, wie in Bsp. 225 dargestellt, ein Modell 1:3 bilden. Bsp. 225 Diese Akkorde verhalten sich wie Lackmuspapier, das je nach dem Säure- oder Laugengehalt einer Lösung die Farbe wechselt. Der Farbwechsel in T. 4 ist ein sprechender Beweis hierfür. Kombiniert man die drei Prinzipien, so wird die tonale Struktur des Themas deutlich: die Substitutions-Verwandtschaft:
a-moll/F-Dur
Zusätzlich spiegeln das Ende der ersten Zeile (c-moll) und das der zweiten Zeile (E-Dur) ebenfalls eine komplementäre (sich gegenseitig aufhebende) Beziehung. (Siehe hierzu Bsp. 223 oben.) Man stellt außerdem fest, daß sich auch der f-moll-Akkord von T. 2 mit dem D-Dur-Akkord in T. 5-7 in polarer Weise reimt. (3) Hinsichtlich ”Frauen höchster Ehr'” verrät T. 8, daß das Lob in Wirklichkeit ”Verachtung” birgt – als wollte Tristan Isolde vom Thron stoßen! Wir hören eine zweischrittige negative Kadenz: g-moll anstelle von G-Dur, tatsächlich aber dessen ”Trugschluß”. Auf diese Weise erhält das Wort ”Ehr'” anstelle von ”Reverenz” einen rauhen und brüsken Ton (Es-Dur = MA-Dur). Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß der Trugschluß der Molldominante gleichbedeutend ist mit MA-Dur (Es-Dur), welches düstere Leidenschaften suggeriert. Und (typisch für Wagner) wird sogar der Trugschluß des Trugschlusses verwendet: c-moll (T. 9). (4) Die zweite Melodiezeile (beginnend mit T. 10) wiederholt die erste Zeile eine große Sekunde höher. Diese Wendung ist bekannt als die stärkste Form von Intensifikation: Tristan erhebt die Stimme! (Die Erhebung um eine große Sekunde entspricht einem Wechsel basierend auf dem modalen Dominant-Tonika-Prinzip.) Takt 4 taucht auf, als hätten plötzlich die Darsteller die Gesichtsfarbe gewechselt. Wieder wird ein Lackmuseffekt erzielt: g-moll (T. 10) und H-Dur (T. 12) sind komplementäre (einander aufhebende) Tonarten. Die vier analogen Akkorde (T. 2-4 und 10-12) beinhalten alle zwölf Stufen der Chromatik: Bsp. 226 Die Divergenz innerhalb der ersten Melodiezeile beruht auf der gegenläufigen Zugkraft von FA und FI. In ähnlicher Weise zielt auch TA abwärts, während TI aufwärts lockt. Diese TA-TI- (b-h) Wendung spricht in T. 11-12 für sich selbst. Der Charakter des e-submoll in T. 10 wird von TA bestimmt, und der des E-Septakkords in T. 13 von TI. (Darüberhinaus stehen e-submoll und E-Dur einander in polarer Distanz gegenüber: Der Monolog wird vorangetrieben durch eine ”Ladungsdifferenz” um sechs Vorzeichen.) Die das dénouement vorbereitende Formel ist eine der merkwürdigsten Leistungen der romantischen Musik. Der TI-Dur-Akkord (h-dis-fis in T. 12) entlehnt seine besondere Eigenschaft von den Noten MA und FI: dis (es) erhält eine MA-Färbung, während die Note fis FI-Charakter ausdrückt. Der Klang verbindet das sterblich ”menschliche” Element (MA) mit dem erhebenden ”spirituellen” Element (FI). Kein Wunder, daß der Akkord, der die Melodie zu ihrem Bestimmungsort hinleitet, eben der H-Dur-Dreiklang ist, um den es hier ging. Dies ist der Punkt, wo Tristan seinen berühmten Satz ”Wie lenkt’ ich sicher den Kiel zu König Markes Land?” äußert. (5) Es kann nicht fern von der Wahrheit sein zu behaupten, daß T. 13-16 das Wesentliche des Tristan’schen Lebensgefühls verdichten. Wieland Wagner bemerkt ganz richtig daß Tristans Schiff über den Styx auf das Reich der Nacht hin ausgerichtet ist – gen Nirwana. Die orientalische Wirkung der beiden Schlußakkorde erklärt sich teils aus dem phrygischen Modus (T. 15-16), teils aus der Quartsext-Struktur in T. 13, vor allem aber aus T. 15, wo a-moll- und F-Dur-Dreiklang wie im Eröffnungstakt gleichzeitig erklingen. Dieser Takt vereint den tonikalen Mollakkord mit seinem negativen Substitutionsakkord (F-Dur), wie unten zur Klärung dargestellt ist: Bsp. 227 Dies ist genau der Zeitpunkt, wo die Bühnenhandlung eine Metamorphose zur Mythologie hin durchläuft: das ”Meer” wird in seiner ganzen Tiefe erfaßbar. Mit a-moll ist der Ausgangspunkt wieder erreicht. Der erste Halbsatz endet mit einem Trugschluß (auch dramaturgisch!), indem er den Prozeß zum Stehen bringt. Der zweite Halbsatz bleibt auf der Dominante offen. Infolgedessen treten c-moll (T. 9) und E-Dur (T. 16) wiederum in komplementäre Beziehung zueinander. Die hauptsächliche Schlußfolgerung,
die sich aus dieser Analyse ziehen läßt, ist, daß Wagner
die zwölf Stufen der chromatischen Skala so benutzt, wie es die Dodekaphoniker
mit den zwölf Tönen der ”Reihe” taten. Jede Stufe hat ihren genauen,
logisch bestimmten Platz innerhalb der Reihe:
Die modale Melodie schöpft die Möglichkeiten
des Tonvorrats voll aus. Und dies ist es, was für die unteilbare Einheit
des Themas, und vor allem für die organische Kohäsion zwischen
den Tönen verantwortlich ist. Ich bin nicht der einzige, der von der
orthografischen Schönheit und Reinheit Wagner’scher Partituren – die
so sehr in Gegensatz steht zu den emotionalen Stürmen und den Verführungen
in seinem Werk – überrascht war. Der Analytiker neigt zu dem Schluß,
daß die Tristan-Partitur niemals ohne die Hilfe eines unfehlbaren
absoluten Gehörs errichtet worden sein könne. Es muß einer
der vielen Widersprüche sein, daß Wagner tatsächlich kein
absolutes Gehör besaß. Dies wiederum (d.h. die Identifizierung
jeder Tonhöhe in ihrer Beziehung zu einem tonalen Zentrum) stützt
das Argument: es ist der modale Gehalt der zwölf Stufen, in denen
das Lebensprinzip von Wagners Musik verborgen ist.
Es war die Einführung des Computers, die den am wenigsten erwarteten Wendepunkt in diesen Analysen herbeiführte. Im Jahr 1983 stellte ich ein Programm zusammen, das sich auf die einfachsten Kombinationen und Permutationen, die in Bartóks Musik zu finden sind, stützte. Nachdem ich das Programm hatte laufen lassen, ”diktierte” der Computer – zu meinem nicht gelinden Erstaunen – wohlbekannte melodische und harmonische Passagen aus Tristan, Parsifal, Otello und Boris Godunov. Wir müssen hier mit einigen ganz grundlegenden Vorgängen auskommen. In meinen Programmen werden nicht mehr als drei Zahlen und drei Buchstaben verwendet. Jede Zahl und jeder Buchstabe liefert uns etwas zutiefst Interessantes und Neues über die Musik und ihre Wahrnehmung. Die Zahl 1 bezeichnet die reine Quint aufwärts oder die reine Quart abwärts. Wir kennzeichnen ja das Symmetriezentrum unseres tonalen Systems (d.h. RE) mit dem Buchstaben Z, während der Grundton des DO-Systems durch den Buchstaben X angezeigt wird, und der des MI-Systems durch Y. Daraus folgt: wenn Z = 0, so trifft zu: X = Z - 2 und Y = Z + 2 Der Abstand zwischen X und Y ist eine große Terz; von allen äquidistanten Skalen ist der aus zwei großen Terzen gebildete übermäßige Dreiklang der einzige, in dem die Anzahl der Noten (3) nicht durch 2 geteilt werden kann! Merkwürdigerweise bezeichnet das Symmetriezentrum Z den ”Atonalitätspunkt”. Im Achsensystem gibt es neben der Stufe RE (=Z) noch ein weiteres Symmetriezentrum. Dies ist der Tritonus von RE, das SI; in C-Dur ist dies die Note gis (as): in der Sprache der Geometrie ergibt sich somit: Z + 6 = Z – 6 Selbstverständlich ändert sich im Fall einer Modulation (oder der Wahl einer neuen Tonart) der Wert des Z. Die drei Töne der Dur- und parallelen Molldreiklänge zeigen eine umgekehrte Beziehung: Dur: X X + 1
Y
Die Zahl 1 ist hier ein wesentliches Element, da sie (als reine Quint) den tonalen Charakter des Akkords bestimmt. Sowohl X als auch Y sind in der obigen Formel enthalten. Eine weitere Eigenheit dieser Formel ergibt sich aus der Tatsache daß sie die nächsten Obertöne (die reine Quint, große Terz und kleine Sept) vereinigt, und ein organisches Verhältnis zwischen den Relationen DO-MI-SO und LA-DO-MI sichert (siehe Bsp. 228b und 111). DI = Y + 3 und MA = X – 3 Die Zahl 3 drückt einen modalen Wechsel aus aufgrund der Tatsache, daß ein modaler Wechsel im Achsensystem einen Unterschied von drei Vorzeichen mit sich bringt. Nehmen wir den einfachsten Fall: LA-DI-MI und DO-MA-SO. Z + 3 = TI
Wenn sich die Zahl 3 auf das Zentrum (RE) bezieht, so bezeichnet es logischerweise einen ”dissonanten” (”empfindlichen”) Ton: Der Tritonus-Abstand zwischen den beiden Tönen ist durch den Unterschied von sechs reinen Quinten ausgedrückt. Man bemerke auch die nach ”außen” bzw. nach ”innen” ziehende Kraft, die den Tönen TI und FA innewohnt. Es ist kein Zufall, daß im subdominantischen d-moll und im dominantischen G-Dur der Ton d (=Z) die Rolle des gemeinsamen Tons übernimmt. In subdominantischen Akkorden findet man den Ton FA (Z – 3), und in dominantischen Klängen den Ton TI (Z + 3). Zudem enthält der Subdominantakkord den Ton LA (Z + 1), der Dominantakkord dagegen den Ton SO (Z – 1). Weiterhin sehen wir aufgrund der im folgenden Beispiel ausgeführten Gleichung, daß diese beiden Töne das ”Bindeglied” zwischen Z und X einerseits, Z und Y andererseits darstellen. In anderen Worten, diese beiden Töne ermöglichen die Verbindung zwischen Tonika und Subdominante bzw. zwischen Dominante und Tonika: Bsp. 229
LA: Z + 1 = Y – 1, und SO: Z – 1 = X + 1 Die Formel der positiven und negativen Substitutionsakkorde TI - MI - SO: Y + 1
Y X + 1
stimmt überein mit der psychologischen Beobachtung, daß wir den ersteren Akkord mit Punkt Y in Verbindung bringen (siehe hierzu die Rolle von Y und Y + 1 im ersten Akkord), den letzteren aber mit Punkt X (im zweiten Akkord sind X und X – 1 enthalten). Komplementäre Tonarten drücken ihre gegenseitig aufhebende Eigenschaft ebenfalls in Zahlen aus. Die Komplementärtonart zu C-Dur ist, wie wir wissen, as-moll, und die von a-moll ist Cis-(Des-)Dur. In beiden findet sich der Ton as (gis), also das Symmetriezentrum unseres tonalen Systems (Z + 6 = Z – 6). In der komplementären Tonart as-moll manifestiert sich der empfindliche Ton TI (Z + 3), wohingegen man im komplementären Cis-Dur den empfindlichen Ton FA findet (Z – 3). Das interessanteste ist jedoch die Rolle, die das dritte Element spielt: in der ”negativen” Komplementärtonart (as-moll) kommt MA vor (X – 3), während in der positiven Komplementärtonart (Cis-Dur) das DI (Y + 3) dieselbe Rolle spielt. * Warum finden wir unser Vergnügen an Spielen mit schwarzen und weißen Figuren auf schwarzen und weißen Vierecken? Warum das leidenschaftliche Interesse für Ballspiele, die sich zwischen zwei Spielfeldhälften bewegen? Die Musik selbst repräsentiert ein ähnliches ”Spiel”. (a) Sowohl in den parallelen, als auch in den substitutiven Harmonien findet das Spiel zwischen DO und MI statt (d.h. zwischen X und Y). Die reine Quint oder reine Quart, den tonalen Charakter des Akkords determinierend, betont den Ton DO in der Dur- und MI in dem parallelen Moll-Tonart (c-g bzw. e-a). Das gilt auch für die Substitutionsakkorde. Nehmen wir einen Dur-Dreiklang und seinen positiven Substitutionsakkord (C-Dur und e-moll). Die reine Quint beleuchtet den Ton DO im ersten, wie MI im zweiten Fall (die Quinten c-g/e-h). Oder nehmen wir einen Moll-Dreiklang und seinen negativen Substitutionsakkord (a-moll und F-Dur). Der eine betont die Stufe MI, der andere den Ton DO (e-a/c-f Quarten oder Quinten). (b) Hinsichtlich
der Rolle des Symmetriezentrums RE (=Z), zieht eine reine Quint abwärts
(RE-SO) in den Bereich der ”Dominante”, während eine reine Quint aufwärts
(RE–LA) zur Funktion der ”Subdominante” führt (Z–1 bzw. Z+1).
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