Das charakteristischste Merkmal in Bartóks und Kodálys Kompositionstechnik ist die dualistische Handhabung des Materials. In meinen analytischen Studien habe ich die Ausdrücke ”pentatonisch” und ”akustisch” benützt, um die zwei Aspekte ihrer Musik zu beschreiben. Aus systematischem Blickwinkel betrachtet ist jeder dieser beiden Grundtypen ein Spiegelbild des anderen. Wenn wir ganz generell die ”chromatisch-pentatonische” Technik als den Regeln der Fibonacci-Serie gehorchend definieren, dann ist das diatonische Obertonsystem nicht anderes als das genaue Gegenstück, oder die systematische Umkehrung der chromatischen Regeln. Die Pentatonik entspringt der Volksmusik des Ostens; dementsprechend ist sie melodischen Ursprungs. Das (akustische) Obertonsystem andererseits wurzelt in der traditionellen Musik des Westens und ist daher harmonischen Ursprungs. Das Obertonsystem ist kontrolliert von physikalischen Konsonanzgesetzen. (Harmonie wird als vollkommen angesehen, wenn die nächsten Obertöne in sie eingeschlossen sind.) Im Durakkord registriert unser Ohr die einfachsten arithmetischen Proportionen. Der Durakkord repräsentiert eine Ordnung, die auf dem gleichzeitigen Erklingen von Noten basiert. Er ist also seiner Konstruktion nach vertikal, hat räumliche Ausdehnung. Pentatonik, auf der anderen Seite, ist ihrem Ursprung nach melodisch. Und da Melodik von Tönen ausgeht, die einander zeitlich folgen, kann man der Pentatonik lineare Ausdehnung zuschreiben. Das vorrangige Unterscheidungsmerkmal pentatonischer Kulturen ist die absteigende Mollterz DO-LA und die (kadenzierend gebrauchte) Quart LA-MI. DO-LA und LA-MI können nicht von physikalischen Konsonanzgesetzen abgeleitet werden – ganz im Gegenteil. Die Pentatonik bringt eine besondere Spannung (die gut als ”Lebensspannung” bezeichnet werden könnte) zum Ausdruck und ist durch die organisch-physiologischen Gegebenheiten unseres Ohrs gerechtfertigt Während das Obertonsystem
arithmetische Proportionen nahelegt, verdankt das
pentatonische System seinen Spannungscharakter der einfachsten geometrischen
Progression, die die organische Entwicklung ”natürlichen” Wachstums
beherrscht.
In den Musikkulturen des Westens entsteht das Tonalitätsgefühl durch die Dreiklangskonsonanz: die con-Sonanz, d.h. den Zusammenklang, von Terz und Quint mit dem Grundton. Es waren das Vorspiel und die Volkschöre aus Mussorgskij’s Boris Godunov, die mir zum ersten Mal das Gefühl gaben, daß es eine Musikkultur gibt, die radikal anders ist als die des europäischen Harmoniedenkens. Das archaische Wesen dieser Melodien beruht auf ihrer Quartsextstruktur. Bsp. 80 In dem unten wiedergegebenen ungarischen Volkslied dient das c als Grundton und tonaler Ruhepunkt. Sowohl die harmonische als auch die tonale Bedeutung der zitierten Melodie sind dabei bestimmt von der Struktur einer Pentatonik auf MI. Diese Harmonie ist nicht f-moll, sondern eine Tonleiter über c als Grundton: Und dieser Quartsextakkord (c-f-as) ist nicht die zweite Umkehrung des f-moll-Dreiklangs; infolgedessen ist er keine Formation zweiter Ordnung, sondern ein musikalisches Element von gleichem Rang wie die Dreiklangsgrundstellungen. Ein unterscheidendes Merkmal von Melodien, die auf MI als Grundton basieren, ist die häufige Bestätigung der Grundtonfunktion durch den Leittonschritt: die phrygische Wendung FA-MI (siehe die Variante im Beispiel oben). Hier mag daran erinnert werden, daß die phrygische Tonleiter eine Skala auf MI ist. Der grundlegende Schritt im plagalen Quartsextsystem ist das kadenzierende LA-MI, während der grundlegende Schritt klassischer Harmonik die authentische Kadenz V-I, Dominante-Tonika, SO-DO ist. Vielleicht zeigt nichts die Beziehung zwischen westlicher und östlicher Denkweise besser als die Tatsache daß, im Bezug auf das Symmetriezentrum RE, die authentische Kadenz SO-DO der klassischen Musik und die plagale Kadenz LA-MI genaue Spiegelbilder voneinander sind: DO und sein Spiegelbild MI können gleichermaßen als Tonika-Grundton fungieren: Das Obertonsystem gehorcht dem Gesetz des freien Falls (wie im Quintenzirkel nachgezeichnet weist es in absteigender Richtung), während das pentatonische System dem Spannungsprinzip folgt und als solches gegen das Gesetz des freien Falls agiert. Wenn die Dominante-Tonika-Kadenz, die für die westliche Musik charakteristisch ist, durch die Akkorde G7 ® C vertreten wird, dann können wir davon ausgehen, daß das ”Spiegelbild” dieser Formel (spiegelbildlich hinsichtlich der Symmetrieachse RE) eine östliche Färbung annimmt. Diese Kadenz ist uns aus dem Vorspiel zum dritten Akt des Tristan wohlbekannt. In beiden Fällen spielen die empfindsamen Noten TI und FA eine bedeutsame Rolle. Doch während in der V-I Kadenz der Leittonschritt TI-DO im Vordergrund steht, gründet die östliche Färbung auf dem ”Leittonschritt” FA-MI. Bsp. 83 Wie in der klassischen Harmonik der Leittonschritt TI ® DO den Tonikagrundton DO bestätigt, so verstärkt in diesem Ausdrucksstil der Schritt FA ® MI den tonalen Grundton MI. Darüberhinaus nehmen die Leittonschritte TI ® DO und FA ® MI in Bezug auf das Symmetriezentrum RE eine symmetrische Position ein und bewegen sich zudem in symmetrischer Richtung: Die Stufe RE bildet weiter das symmetrische Zentrum nicht nur für die pentatonische Skala, sondern auch für die Dur- und Molltonleitern, in denen aufsteigend und absteigend von RE aus jedes Intervall sein genaues Spiegelbild hat: Im Verhältnis zum RE stehen daher die parallelen Dur- und Mollakkorde zueinander in umgekehrter Beziehung. (Siehe hierzu die Beziehung von C-Dur und a-moll in Beispiel 186.) Die unisono-Melodie am Beginn von Wagners Tristan – der Gesang des jungen Seemanns – erscheint in zwei Grundgestalten: die eine ist von einem SO-Orgelpunkt begleitet, die andere von einem MI-Orgelpunkt. In der ersteren ist es das SO-DO, in der letzteren das LA-MI, was das Wesen der Tonalität in dem Lied bestimmt. So hat die erste Gestalt einen Dur-, die zweite einen Mollcharakter. Bsp. 84 Die Noten der akustischen Tonleiter sind ebenfalls symmetrisch um die RE-Achse angeordnet, wobei TA das Spiegelbild von FI ist. (Siehe Bsp. 217.) Schließlich sollten wir auch noch die Stufen DI und MA in das oben skizzierte Bezugssystem einbeziehen und damit eine polare Spannung schaffen. Die hinsichtlich RE symmetrische Position der Schritte DO ® DI einerseits und MI ® MA andererseits ist wiederum offensichtlich: Die grundlegende Tonleiter Bartókscher Chromatik ist, wie wir wissen, das Modell 1:2. Wenn wir den Noten der akustischen Harmonie die Stufen DI + MA hinzufügen, entsteht genau dieses Modell 1:2: Bsp. 85
Die komplementäre Beziehung zwischen beiden Systemen Die Harmonien des chromatischen und des diatonischen Systems sind janusgesichtige Klänge, sie bilden einen Kontrast innerhalb der Einheit. Die zwei harmonischen Bereiche komplementieren einander in solchem Maße, daß die Zwölftonleiter in einen Abschnitt nach dem ”goldenen Schnitt” und einen ”akustischen” Abschnitt unterteilt werden kann (wobei des – ein phrygischer Schritt! – und h als chromatische Stufen eine chromatische Interpretation erforderlich machen). Die charakteristischen Intervalle der
beiden harmonischen Welten komplementieren einander wie das Positiv und
das Negativ eines Fotos.
Im Vorspiel des Háry stellt Kodály die MI-Tonleiter der DO-Tonleiter gegenüber: das pentatonische Expositionsthema auf c=MI kehrt in der Reprise mit DO-Charakter wieder:
Die inverse Beziehung zwischen beiden Systemen Die Beziehung zwischen den beiden Systemen
ist jedoch multidimensional. Die Elemente des pentatonischen und des akustischen
Systems komplementieren einander nicht nur; sie spiegeln einander:
durch die Umkehrung der Schritte 8, 5, 3, 2 werden akustische Intervalle
erzeugt, und umgekehrt.
In Bartóks Cantata profana fungiert d als tonaler Grundton. Die Tonleitern zu Anfang und Ende des Werks sind Note für Note das genaue Spiegelbild von einander. Der Beginn des Werks erhebt sich aus der Pentatonik auf MI (mit Rahmen d-f-g-b-c), während der tonale Rahmen des Schlußthemas der Pentatonik auf DO zugehörig ist (d-e-fis-a-h). Beide Tonleitern sind gefärbt mit den Stufen FI und TA. Die Schlußskala nimmt dadurch die Gestalt einer akustischen Tonleiter an (DO-RE-MI-FI-SO-LA-TA-DO), während wir im Eröffnungsthema eine verminderte Quint – TA – anstelle der reinen Quint finden. Bartók selbst nahm in seinen Harvard-Vorlesungen auf die hier erörterte MI-Tonleiter Bezug.* Die tonale Grundidee von Bartóks Cantata profana ist schon von Liszt in dessen Via crucis verwirklicht worden, in einer Form, die auf der spiegelbildlichen Verwandtschaft des DO- und des MI-Systems beruht. Auch dort sind Anfang und Schluß des Werks im Grundton d verwurzelt. Aber während sich der Beginn des Werks aus der Pentatonik auf MI entwickelt (mit einem d-f-g-b-Thema von Quartsextcharakter), zeigt sich der Schluß als genaue Umkehrung und beendet so das Werk mit der Skala auf DO. Bsp. 89 Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug zeigt eine ähnliche Struktur: das Hauptthema des ersten Satzes erfüllt den Rahmen der Pentatonik auf MI (c-es-f-as), während das Hauptthema des letzten Satzes deutlich DO-Charakter bekommt (C-Dur-Akkord!) und zugleich eine vollkommene akustische (Ober-)Tonleiter darstellt. In Bartóks Musik bildet die unmittelbare Konfrontation der beiden Systeme die ”Hauptpfeiler” des Werks. In der Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug findet die dramatische Metamorphose an der Grenze zwischen zweitem und drittem Satz statt. Der zweite Satz endet mit einem Quartsextakkord auf c (c-f-as), der Beginn des dritten Satzes jedoch gründet bereits auf dem C-Dur-Akkord und der damit einhergehenden akustischen Skala. In Beethovens Missa solemnis ist
”sepultus est” verbunden mit dem Quartsextakkord auf c (c-f-as-c),
”et ascendit” dagegen mit einem C-Dur-Klang (vgl. hierzu Bsp.
82).
Als Folge der besonderen Gegebenheiten des akustischen Systems sind die in ihm gegründeten Formationen konsonant: aufgrund der Obertonbeziehungen enthält es ausschließlich konsonante Intervalle, während die Elemente des Fibonacci-Systems genau diejenigen sind, die von der klassischen Theorie als dissonant angesehen werden. Wenn wir das im früher Gesagte in Betracht ziehen, so wird es klar, daß innerhalb des akustischen Systems die kräftigste Dissonanz in den Fibonacci-Intervallen 2, 3, 5, 8 (d.h. in den Mollsubdominantharmonien) verkörpert ist. Im pentatonischen System trifft dies auch umgekehrt zu! In Melodien, die auf der Struktur der Intervalle 3, 5, 8 basieren, empfinden wir die reine Quint als die aggressivste Dissonanz. So beruht, wie im Bsp. 87 gezeigt wurde, das Eröffnungsthema von Kodálys Háry János auf der pentatonischen Tonleiter auf c = MI (c-es-f-as-b). Innerhalb dieses tonalen Kontexts stellt die reine Quint den Spannungshöhepunkt dar (Stufe TI!). Diese Dissonanz c-g verlangt nach Auflösung. Wie in der klassischen Harmonik ist auch hier die Quint-Spannung als Schwerpunkt aufzufassen: das betonte g fällt auf einen schweren Taktteil. In einem ungarischen Volkslied (Bsp. 81) strebt die Quint auf gleiche Weise nach der Quart. Die obigen Prinzipien werfen ein neues
Licht sogar auf die kompliziertesten Melodien. Z.B. hat das chromatische
Fugenthema in Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug
und Celesta einen stark MI-bezogenen, also phrygischen Charakter (siehe
Bsp.
109): a-b am Anfang und b-a am Ende; der
gespannteste Punkt der Melodie ist die reine Quint (e); das Schlußmotiv
ist auf die Kadenz LA-MI (d-a) aufgebaut (siehe die Rolle
des verlängerten d im letzten Takt). Der Kern des Themas wird
durchgehends aus der pentatonischen kleinen Terz gebildet.
Das unmittelbarste und zugleich tiefste Geheimnis ist das von der Dualität, das zwischen der ”geschlossenen” Welt des chromatischen und der ”offenen” Sphäre des akustischen Systems besteht. Die geschlossenen Fibonacci-Modelle erzeugen einen spannungsreichen und dynamischen Effekt; die offenen Obertonharmonien dagegen vermitteln einen ausgeglichenen und statischen Eindruck. Auch die Melodielinien folgen diesem Prinzip: in der geschlossenen Welt des chromatischen Systems drücken sich Themen auf natürlichste Weise in kreisförmigen, rotierenden Bewegungen aus, in der offenen Diatonik dagegen in geradliniger Motivik (siehe hierzu Bsp. 107). In Übereinstimmung mit dem dynamischen Wesen des chromatischen Systems befinden sich dessen Formationen in ständigem Expansions- oder Kontraktionsprozeß – daher die Häufigkeit von ”Scheren”-Themen und ”Trichter”-Motiven, von Kanons mit Einsätzen in ständig sich vergrößerndem Abstand, von ”fächerförmigen” Verläufen usw. Innerhalb der diatonischen Kompositionsweise findet sich hingegen keine Spur dieser pulsierenden Verläufe; akustische Harmonien sind gekennzeichnet von Stabilität und Beständigkeit. Die Dualität von Offenheit und Geschlossenheit drückt sich auch in den Zahlenbeziehungen aus. Das akustische System beruht auf ganzen Zahlen; man erhält die Obertonreihe, indem man die Schwingungszahl des Grundtons mit 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 usw. multipliziert. Demgegenüber ist die Schlüsselzahl des pentatonischen Systems irrational – genau wie das p des Kreises. (Zur Rolle des geometrischen Mittels in Bartóks Musik siehe das Kapitel Natursymbolismus.) Auch die Proportion 3:5:8 ist nur ein ungefährer Annäherungswert. * Zum Schluß sei hier noch die Frage erörtert, wie man den Übergang schafft vom plagalen Quartsextsystem zum authentischen Dur-Moll-System. Es gibt zwei Möglichkeiten. (a) Man kann mittels einer tonalen Antwort den Quartsextakkord e-a-c in die Dreiklangs-Grundstellung a-c-e verwandeln. Das unisono-Hauptthema des Psalmus Hungaricus ist ein gutes Beispiel dieser Vorgehensweise: Bsp. 91 NB., in der Mitte der Melodie (Takt 5-6) tauchen die ”Antitonika” c-g-d und die ”modale Dominante” G-Dur auf. Innerhalb des Themas repräsentieren diese die ”Spannungsfunktion”. (b) Die Verwandlung ist sogar noch wirkungsvoller, wenn der Quartsextakkord auf e (e-a-c oder e-a-cis) in einen ”gleichnamigen” Dreiklang aufgelöst wird, also nach e-moll oder E-Dur. In der Tat geschieht eine ähnliche Verwandlung in der Melodie von Bartóks Zweitem Quartett, ganz am Schluß des ersten Satzes: Bsp. 92 Es stellt sich hier die Frage, warum DO und MI die am stärksten statischen Punkte der beiden tonalen Systeme sind. Eine Tonart wird, wie wir wissen, nur durch die asymmetrische Unterteilung des tonalen Systems etabliert. Wenn die Töne der pentatonischen Reihe in Quintordnung arrangiert werden, so wird die vollkommenste Asymmetrie in den außenliegenden Stufen verwirklicht, in DO und MI. do --- so --- re --- la --- mi Die Individualität der Pentatonik auf DO beruht entscheidend auf der Tatsache, daß man sie bauen kann, indem man nichts als reine Quinten benutzt. Daher ist der Charakter der Pentatonik auf DO der am meisten ”materialistische”. Der Charakter der Pentatonik auf MI dagegen ist der am meisten körperlose, da auf der Wurzel MI nicht einmal eine einzige reine Quint errichtet werden kann. Infolgedessen ist die Leiter auf DO ”materiell”, die auf MI aber ”spirituell” (abstrakt) von Charakter, und gemahnt an die ”innere” Welt. Dieser Dualismus ist schon von Wagner verwirklicht worden. Die Parsifal-Glocken ”klingen verschieden” im ersten und im dritten Akt der Oper. Das viertönige Motiv c-g-a-e erhält seine Bedeutung im ersteren Fall aus der Beziehung zu c, während es sich im letzteren Fall nach e hin orientiert: Bsp. 93 Dieser Unterschied im Charakter wurde auch von Verdi in dessen Otello anerkannt. Die Unerreichbarkeit der Desdemona wird durch Pentatonik auf MI, während Jagos bodenständiger Materialismus durch Pentatonik auf DO dargestellt. Erstaunlich ist dabei, daß die Noten der beiden Skalen identisch sind. Bsp. 94 Dabei erweist sich die Stufe RE, das Symmetriezentrum, als am wenigsten stabiler Punkt der Skala. Symbolisch gesprochen vertritt RE innerhalb der Pentatonik den Punkt der ”Atonalität” und übt deshalb eine so schwebende Wirkung aus. Eine einzige pentatonische Harmonie, der Eröffnungsakkord der Oper, genügt Verdi, um die Sturmmusik des Otello zu entfesseln. Das Geheimnis des Effekts ist dabei, daß der Akkord auf RE basiert, und daß der RE-Charakter zusätzlich betont ist durch die Noten g-b-d-f, die hier die Bedeutung von LA-DO-MI-SO haben: In unserem Zwölfstufensystem gibt es neben der Stufe RE noch ein zweites Symmetriezentrum, nämlich den Tritonus auf RE, die Stufe SI (gis oder as innerhalb einer Tonart auf c). Dies zeigt sich schon äußerlich bei einem Blick auf die schwarzen und weißen Tasten unserer Tasteninstrumente. Chromatische und diatonische Systeme sind
daher Phänomene, die nicht unabhängig voneinander entstanden
sind. Vielmehr repräsentieren sie die beiden Seiten, oder den negativen
und den positiven Aspekt, desselben musikalischen Kosmos. Sie bestätigen
und verneinen einander, schließen sich gegenseitig aus und setzen
sich doch gleichzeitig gegenseitig voraus. Ihre Synthese ermöglicht,
daß die traditionellen Elemente der Musik in der dialektischen Beziehung
beider Systeme wiedergeboren werden.
Dualität und Synthese**) Ich möchte hier versuchen, eine Interpretation
der dualistischen Welt Bartóks, seine ”yang-yin”-Technik, zu geben.
Das Prinzip der Dualität bedeutet für Bartók die Möglichkeit einer Synthese. Er war sich nicht nur dessen bewußt, daß fis und c Gegenpole darstellen, sondern kannte auch den Weg von der Dunkelheit ins Licht. Er lehrt uns nicht nur, die dialektischen Gegensätze in Chromatik und Diatonik zu sehen, sondern zeigt uns auch den Pfad vom ”Inferno” ins ”Paradiso”. Und je mehr wir uns seiner Musik annähern, desto besser verstehen wir, daß Bartóks Yang-Yin-Gedanke keine Philosophie der Dissonanz, sondern eine der Harmonie ist – wie Beethoven es formulierte: eine Harmonie der ”inneren” und ”äußeren” Welt.
*) Siehe Béla Bartók, Essays, herausgegeben von B. Suchoff, London: Faber and Faber, 1976, Seite 363 **) Aus dem Artikel desgleichen
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