BÜHNE DER MUSIK FÜR SAITENINSTRUMENTE, SCHLAGZEUG UND CELESTA
Mit Hinsicht auf Konzentriertheit und Geschlossenheit der Form gibt es kein Werk Bartóks, das den ersten Satz der Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, die berühmte ”Pyramidenfuge”, übertrifft. Die kreisförmige Geschlossenheit manifestiert sich schon in der Tonartenfolge. Die Einsätze des Fugenthemas basieren auf dem Quintenzirkel. Ausgehend vom Zentralton a und der ”mittellagigen” Bratschenstimme breiten sich die Einsätze nach beiden Seiten hin – aufwärts wie abwärts – entlang der Kreislinie des Quintenzirkels aus, bis sie sich in der Satzmitte am gegenüberliegenden Pol (dem Gegenpol es) treffen: Bsp. 96 Danach setzen sie ihre Route fort und finden schließlich den Weg zum Ausgangs-punkt zurück: von es zu a. Die dynamische Entwicklung folgt ebenfalls dieser Brückenform: der Satz beruht auf einem einzigen großangelegten crescendo-decrescendo. Nach einem Beginn in pianissimo steigt die Spannung beständig, bis sie den Höhepunkt in fortefortissimo erreicht, und sinkt dann Schritt für Schritt zurück zu piano pianissimo. (Es ist kein Zufall, daß der Satz auch als ”Scherenfuge” oder ”Fächerfuge” bekannt ist.) Außerdem werden auch die Einsätze auf dem Weg zum Kulminationspunkt immer häufiger, um danach allmählich an Dichte zu verlieren: die ersten fünf Themeneinsätze werden jeder für sich vorgestellt, der sechste und siebte Einsatz treten im Kanon auf und die Einsätze 8 bis 11 gleichzeitig (in enger Folge). Nach dem Höhepunkt ist der Prozeß dann umgekehrt. Das heißt also, daß die Pyramidenform auch in der Verdichtung und anschließenden Ausdünnung des Materials verwirklicht wird. Tatsächlich erscheint auch das Fugenthema selbst von der Spitze der Pyramide an in Umkehrung, nach Art einer Spiegelung. Bsp. 97 Angesichts eines derartigen Grades an Konzentration sind wir berechtigt zu fragen, ob es sich hier nur um ein technisches Kunststück handelt oder ob die visuelle Struktur ihrerseits eine Projektion der poetischen Konzeption ist. Was meinen eigenen Eindruck betrifft, so würde ich den Stellenwert der Fuge innerhalb des Werks wie folgt definieren. Der Eröffnungssatz ist aus dem Geist der Bartókschen ”Schöpfungsidee” geboren. Bartók beschwört den elementaren Ausbruch im Zentralpunkt des Satzes, um einen Übergang zu schaffen vom Chaos in eine dialektisch artikulierte Welt. Im Kulminationsmoment wird das wirbelnde, formlose Material – ein klingendes Chaos – geordnet zu intelligiblen Paaren von These und Antithese, Fragen und Antworten: das Rohmaterial teilt sich in beidseitig komplementäre Elemente. Als Gegensatz zum homogenen, unpersönlichen Wirbeln des ersten Teils dieses Satzes ist es gerade diese dialektische Teilung in Licht und Schatten, die die Geburt der Individualität in diesem Werk bezeichnet. Bsp. 98 In der qualitativen Transformation des Materials spielt die doppelte Klangbühne, das doppelte Orchester, eine bedeutsame Rolle. Das Stück verlangt zwei Streichorchester; zwischen sie plaziert ist die Gruppe bestehend aus Klavier, Celesta, Harfe und Schlagzeug. So polarisiert nicht nur die Anordnung der Instrumente die Klangfarbe (wie der Titel so lebhaft ausdrückt, von der volltönenden Pauke zur ätherischen Celesta), sondern auch die musikalische ”Bühne” selbst, durch den stereophonen Effekt der Streicher rechts und links. Der Einleitungsteil der Fuge (die Exposition) findet im akustischen Raum rechts des Zentrums statt; der Satz endet jedoch auf der gegenüberliegenden, linken Seite der Bühne. Schon in der antiken Philosophie wurden die Vorstellungen von links und rechts mit ”Innenwelt” und ”Außenwelt” identifiziert. Auf modernen ”sonic stages” ist diese Identifikation tatsächlich zur Regel geworden! Der den Begriffen ”links” und ”rechts” zugeordnete Inhalt mag mit der asymmetrischen Anlage unseres Körpers zu tun haben, insbesondere mit der Tatsache, daß unser Herz links liegt. Ein Stereo-Plattenspieler kann uns leicht überzeugen, wie grundlegend der Charakter des Satzes verändert wäre, würde man die Orchester links und rechts vertauschen. (Mein Kunstgeschichtelehrer projizierte einmal Dias von Giottos Fresco Christi Trauer und einer Landschaft von Rembrandt seitenverkehrt an die Wand, um zu illustrieren, wie diese Änderung sowohl die Wirkung als auch die Stimmung und Aussage der Bilder radikal veränderte. Dabei nahm z.B. das Landschaftsgemälde impressionistisch offenen oder aber intimen und persönlichen Charakter an, je nachdem, ob der Baum auf der rechten oder linken Seite des Bildes zu sehen war.) All dies stimmt überein mit unserer vorherigen Beobachtung, daß das formlose Wirbeln der ersten Satzhälfte unpersönliche, die Aufklärung in der zweiten Satzhälfte dagegen persönliche Elemente zum Ausdruck bringt. Zum traumähnlichen Schweben des Schlußteils erhebt sich das Fugenthema aus der Tiefe in die Höhe, indem es von der ”äußerlichen” (rechten) Bühnenseite zur ”innerlichen” (linken) wandert. Die Bewegung von der rechten zur linken Seite entspricht dabei der östlichen Denkweise. Wie aus dem Vorangehenden hervorgeht, spiegelt die Strenge der Komposition nicht die Gesetze formaler Logik, sondern vielmehr die organischer Entwicklung. Dies ist umso offensichtlicher im Entwurf der Proportionen, denn diese folgen nicht den Prinzipien klassischer Symmetrie, sondern den Gesetzen natürlichen Wachstums. Diese haben wir im Kapitel ”Natursymbolismus” folgenderweise erklärt: Wenn z.B. jeder Ast eines Baumes jährlich einen neuen Zweig hervorbringt, der junge Zweig jedoch seinen ersten Ableger jeweils erst nach zwei Jahren abspaltet, so entsteht als Abbild der jährlichen Progression die folgende Zahlenreihe: 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89 (Siehe auch Bsp. 20.) Die 89 Takte der Fuge sind durch den Höhepunkt in Abschnitte von 55 + 34 unterteilt. Die Aufhebung des sordino segmentiert ferner den ersten Teil des Satzes nach der Ratio 34 + 21, während der zweite Teil des Satzes durch die neuerliche con sordino-Anweisung in klarumrissene Abschnitte von 13 + 21 Takten zerfällt. Die Exposition endet in Takt 21, und sogar die 21 Takte, die den Satz beschließen, weisen ein Verhältnis von 13 + 8 auf. Wie die Knotenpunkte einer Longitudinal-welle, so sind auch hier die Unterteilungspunkte mit Gravitation auf das Zentrum hin ausgerichtet. (In Anlehnung an Bülows Beethoven-Analysen muß dieser Satz durch einen Takt mit Pause ergänzt werden.) Bsp. 99 Die Anlage des Satzes bildet somit einen einzigen Wellenbogen. Die Aufgabe des Satzzentrums ist es, die Metamorphose herbeizuführen: die Transformation, die die Basis jeder wirklichen dramatischen Handlung ist. Die Form stellt damit so etwas wie ein Magnetfeld dar: beim Überschreiten des Zentrums vertauschen sich die Pole der Anziehungskraft. Damit hat das Erscheinen des (tonalen) Gegenpols im Augenblick des Höhepunkts eine essentiell inhaltliche Funktion. Die Transformation des Materials wird auch in den anderen Sätzen des Werkes durch das Auftreten des Gegenpols angezeigt. Auf diese Weise sind alle vier Sätze, sowohl gemeinsam als auch individuell, zu einem Pol-Kreis zusammengeschlossen.
Die dualistische Anlage des zweiten Satzes kann besonders gut gezeigt werden, indem man die Themen von Exposition und Reprise einander gegenüberstellt. Der Satz springt mit einem irritierten Reflex auf die Füße. Mit tigergleicher Gestik schneidet das zweite Orchester in den Themeneinsatz des ersten Orchesters! (Das gleiche gilt später umgekehrt, wenn von Takt 10 an das erste Orchester das zweite unterbricht.) Dieser Effekt wäre unter ausschließlicher Verwendung von mono-Klang kaum erreichbar! Die Teile ”beißen wild ineinander”. Diese Zusammenstöße und das scharfe Aufeinanderprallen der Teile bestimmen auch im Folgenden den Charakter der Exposition. Andererseits vereinigen sich im Hauptthema der Reprise die Instrumentalgruppen der beiden Orchester. Die schnellen, reißenden Bewegungen der Exposition gehen in ausgeglichenes Wiegen über, und entsprechend ändert sich die Rolle der Pauken: Der schärfste Gegensatz entsteht allerdings durch das Schlußthema. Sein Einsatz in der Exposition ist gleichbedeutend mit ”Konflikt”. Die breiten Linien und die von Trommel-crescendos und krachenden Bässen begleiteten Blitzschläge führen zu einem ”Ringen” der Stimmen: die verschiedenen Instrumentengruppen kämpfen resolut miteinander, ohne daß es zu einem Resultat käme (siehe Takt 141). Es ist das Wesen der Exposition, daß ihre Handlungdramatik ungelöst bleibt. Nicht so jedoch in der Reprise! Das Schlußthema der Reprise ist mit seinem anstelle des vorherigen Ringens gesetzten Un poco largamente (Takt 466) auf Erfüllung angelegt. Im Anschluß an die ungelöste, unvollendete Exposition folgen das secco-Geklapper und das hochgespannte Funkensprühen der Durchführung mit der Gewißheit einer physikalischen Reaktion. Hinter den saitenzupfenden staccatissimos und der mörderischen Aufgeregtheit der rhythmischen Schläge steht wieder, Note für Note, das Fugenthema: Auf Schritt und Tritt verrät die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, daß der Komponist im Inneren ”stereo” hörte. Man kann sogar sagen, daß Bartók mit Prinzipien vertraut war, die die Pioniere moderner Stereoaufnahmen erst in den frühen Sechzigerjahren entwickelten. Im Hauptthema des zweiten Satzes wird die linke Streichergruppe von der rechten abgelöst (siehe hierzu das früher abgedruckte Bsp.102), während im Hauptthema des vierten Satzes das rechte Orchester seine Antwort aus dem linken erhält, in Übereinstimmung mit der Tatsache, daß die Stimmung im Finale entspannt und freudig ist – im Gegensatz zu den energischen, aufbrausenden Impulsen am Beginn des zweiten Satzes. Wir haben schon früher erfahren, von wie entscheidender Bedeutung die Tatsache ist, daß die beiden Orchester in der Reprise des zweiten Satzes vereint werden. In ähnlicher Weise wird der Klang in Takt 74 und 114 des Finale ”zentralisiert”. Melodien, die die ”Emotionen” ansprechen – wie die Seitenthemen des dritten Satzes – kommen konsequent stets von links, während Gedanken ”geistigen” Inhalts von rechts erklingen. Es ist auch anders gar nicht denkbar: am Schluß des vierten Satzes, wo das Fugenthema in diatonischer Gestalt wiederkehrt, hört man die Melodielinie von der rechten Bühnenseite – die geistige Wesensart des Gedankens ist auf diese Weise bedeutsam ausgeweitet. Es kann ferner beobachtet werden, daß der ”impressionistische” Charakter mit der räumlichen Polarisierung der Tonalität Hand in Hand geht. Umgekehrt gilt auch, daß der äußere Raum umso mehr an Bedeutung verliert, und die Tonorganisation umso homogener (mono-klingender) wird, je ”expressionistischer” der Charakter der Musik ist. Dies birgt außerordentliche Möglichkeiten! So transformiert Bartók z. B. auf dem Höhepunkt des ersten Satzes, wenn all unsere Aufmerksamkeit auf die innerliche Dynamik und Spannung konzentriert ist, den polarisierten Klang in einen ”mono”-Klang; d. h. er läßt beide Orchester dieselben Stimmen spielen. Das Umgekehrte ist ebenso wirkungsvoll. Da jedoch für die ”chromatische” und die ”diatonische” Technik jeweils konträre Gesetze gelten, passiert dieser Vorgang in der diatonischen Welt auch in umgekehrter Reihenfolge: der homogene Klang wird anläßlich des Höhepunkts zum ”stereo”-Klang, in ganz ähnlicher Weise wie die Landschaft sich plötzlich vor unseren Augen öffnet, wenn wir den Berggipfel erstiegen haben. Der Gegensatz von rechts und links sorgt auch oft für einen Eindruck von ”hier nahbei” und ”dort weiter entfernt”; hierfür bietet der nächste Satz ein interessantes Beispiel. Schon Franz Liszt schrieb in einem poetischen Brief (aus Florenz, 1839) über diesen Symbolismus anläßlich Raphaels Gemälde der Santa Cecilia. ”Der Maler stellt Paulus und Johannes auf die linke Seite des Bildes. Der erstere ist zutiefst in sich selbst versunken, die Außenwelt hört für ihn auf zu existieren; hinter seiner gigantischen Gestalt lauern immense Tiefen. Johannes ist ein Mann der Anziehungskraft und des Gefühls; ein beinahe weibliches Gesicht schaut uns hier an. Andererseits bewahrt Augustinus rechts von Cecilia kühles Schweigen... er verzichtet sogar auf die heiligsten Emotionen und kämpft ständig gegen seine Gefühle. An der rechten Kante des Bildes steht Magdalena in der vollen Pracht ihrer weltlichen Gewänder; ihr gesamtes Gehabe drückt Weltgewandtheit aus, ihre Persönlichkeit strahlt eine irgendwie an Hellas gemahnende Sinnlichkeit aus... Ihre Liebe beruht auf den Sinnen und trägt sichtbarer Schönheit Rechnung. Das Wunder des Klanges nimmt ihr Ohr schneller gefangen, als ihr Herz von übernatürlicher Begeisterung ergriffen wird.” Der dritte Satz ist magische Naturmusik. Seine Anlage beruht wiederum auf Symmetrie – auf einer fünfteiligen Bogenform mit der Themenfolge A-B-C-B-A. Der Trauergesang des ersten und letzten Abschnitts auf der einen Seite und die lockende Sirenenmusik des zweiten und vierten Abschnitts auf der anderen Seite reimen miteinander, während die scharfen Blitzschläge des dritten Themas das Zentrum der Brücke markieren. Um es anders auszudrücken: die Anlage des Satzes beschreibt eine großräumige Kuppel, die von der schluchzenden Trauermelodie (A) zum ätherischen Sirenengesang des zweiten Themas (B) aufsteigt. Eine das gesamte Orchester in Unruhe bringende Wellenbewegung bereitet den Zenit mit den Lichteffekten des Höhepunkts vor (C; siehe das früher angeführte Bsp. 59). Darauf geht es in umgekehrter Reihenfolge der Themen (erst B, dann schließlich A) zum Ausgangspunkt zurück. Erich Doflein schreibt, daß der Xylophonrhythmus zu Beginn des Satzes seine Inspiration vom Holztrommelrhythmus japanischer Noh-Dramen herleitet. Daß Bartók zu derartigen Klangeffekten nicht um ihrer selbst willen greift, erweist sich auf gerade diesen Seiten der Partitur. Aus dem ersten Thema, dem schluchzenden Klagelied, steigt der ”Rauch” eines Gongschlags auf zur ätherisch hellen dolce-Melodie des von Celesta und Violine gespielten zweiten Themas. Da jedoch in der Reprise die Reihenfolge der Themen vertauscht ist, wird dort die vorangehende dolce-Melodie plötzlich beendet durch das (durch Schlagen der Saiten gegen das Griffbrett entstehende) ”Saitenknallen” und leitet damit zum Trauergesang zurück. Und während die Melodie und nächtliche fis-Tonart des Trauergesangs durch den schauernden Klang der Pauken (d. h. durch die tiefste Klangfarbe, die innerhalb des Schlagzeugs erreicht werden kann) vertieft wird, bezeichnet ein Effekt des hochklingenden Beckens das Zentrum des Satzes und die Tonart des Lichts: c. Bsp. 104 Wie in den vorangegangenen Sätzen transmutiert der Zenit der Kuppel (der Gegenpol des Satzes) auch den Inhalt der Handlung. Dies ist auf bewegende Weise in der Reprise des zweiten Themas zum Ausdruck gebracht: Bsp. 105 Der wichtigste Effekt entgeht oftmals der Aufmerksamkeit der Aufführenden: Dieses Thema kehrt im Kanon wieder, wobei Bartók von der imitierenden Kanonstimme (dem Violoncello) eine intensivere Dynamik verlangt als von der führenden Violine: das Cello ist piano, die Geige pianissimo. So entsteht folgende Wirkung: Die Melodie wird zur Erinnerung, zum Gedächtnisbild; mit Hilfe der kanonischen Textur verschiebt es sich in Raum und Zeit (Aufmerksamkeit und Bewußtsein sind zweigeteilt). Es findet auf einer geteilten Doppelbühne statt, und aufgrund der betonten Imitationsstimme fällt stärkere Beleuchtung auf die entferntere Bühne. Wir weisen hierauf hin, weil langsam laufende kanonische Melodien in Bartóks Reprisen auch anderswo die Rolle des ”Gedächtnisses”, der Erinnerung und des Gedenkens spielen. In diesem Fall ist der Erinnerungseffekt durch etwas anderes verstärkt. Man hört die Geige von der linken Seite der Bühne, das imitierende Cello von der rechten. Wie auf der modernen Stereobühne wird die linke Seite mit der Vorstellung ”innerhalb und hier” in Verbindung gebracht, die rechte Seite dagegen mit der Vorstellung ”außerhalb und fern”. Der Gedächtnischarakter macht uns klar, warum die Melodie mit einem Seitenschnarren – einem starken pizzicato, bei dem die Saiten vom Griffbrett zurückschnellen – enden muß. Als Folge dieses Krachens stöhnen die Bässe und der Trauergesang hebt erneut an. Das Finale bringt die poetische Lösung des Werkes. Diese Lösung ist gegeben in der Tatsache, daß das Leitmotiv des Stückes, das ”geschlossene” Fugenthema, das bisher in eng chromatischer Gestalt erschienen war, gegen Schluß des Satzes in breiter, diatonischer Satzweise erklingt, nämlich in der ”offenen” Sphäre der natürlichen Obertonreihe (siehe Bsp. 109). Die Transformation von geschlossener zu offener Gestalt wird schon im Hauptthema offenkundig; die ”kreisförmigen” Melodielinien des ersten Satzes sind hier zu ”geraden” Tonleitern erweitert: Bsp. 106 Bartóks geschlossene Chromatik kann durch das Symbol des ”Kreises” wiedergegeben werden, während seine offene Diatonik sich im Symbol der ”geraden Linie” abbilden läßt. Diesen Emblemen gleichen sich auch die Themen an: das chromatische System verbindet sich auf natürlichste Weise mit der Kreisform, die Diatonik aber mit der geradlinigen (tonleiterartigen) Melodieführung. Als Beispiel seien hier jeweils die Eröffnungs- und Schlußthemen der Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug so wie der Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta. Auch in Dantes Göttlicher Komödie dient der Kreis als Symbol des Infernos, während die gerade Linie, der Pfeil oder der Strahl das Paradies symbolisiert. Die konzentrischen Kreise der Hölle verengen sich, bis sie den Cocytus erreichen; die des Paradieses dagegen erweitern sich bis ins unendliche Emphyreum. In der Göttlichen Komödie begegnen wir wiederholt der Transformation des Kreises in die Gerade, und umgekehrt. So spricht der Dichter zum Beispiel die Bewohner des Purgatorio in folgender Weise an: ”Durch Kreisen und Besteigen mancher Leiter,/ Den Berg, der, wen die Welt krümmt, gerade macht” (Purg. XXIII); oder später, beim Blick in den Lichtfluß: ”..., konnt ich gleich entdecken,/ Daß seine Länge dann geworden rund” (Par. XXX). Wie charakteristisch für Bartóks Einfachheit es doch ist, daß er bei der Wiederkehr des diatonischen Fugenthemas mit einer unisono-Melodie auf der G-Saite zufrieden ist; diese künstlerische Lösung wird praktisch ohne jedes technische Hilfsmittel erreicht. Selbst bei ihrer Wiederholung ist die Melodie nur von einfachen Durdreiklängen begleitet, wodurch der Klang standfest und erhaben wie der einer Orgel wird – auf diese Weise aufzeigend, daß das Fugenthema, geboren aus dem klanglichen Chaos des ersten Satzes, nach dem schneidenden Humor des zweiten Satzes und des Naturzaubers im dritten Satz endlich seine poetische Erfüllung gefunden hat. Was aber bedeutet diese ”Offenheit” tatsächlich? Die hypnotische Wirkung des ersten Satzes ergibt sich aus der Tatsache, daß wir uns im Fortschreiten entlang des Quintenzirkels in jedem Augenblick, in jeder Phase der Umschreitung notwendigerweise der Position bewußt sind, die das Thema im Verhältnis zum Zentrum innehat. Bachofens mythologische Analysen lenken unsere Aufmerksamkeit darauf, wie tief und unauslöschlich der rituelle Akt des Umschreitens in der menschlichen Natur verwurzelt ist. (So würden die spannenden Zirkusspiele der Antike ebenso wie die modernen Pferderennen, Dantes Reise durch die Kreise der Hölle oder das Im-Kreise-Gehen der Liebenden in der Wasser- und Feuerprüfung der Zauberflöte einen gänzlich anderen Eindruck erzeugen, wollten wir den äußerlichen Handlungsrahmen unterbrechen.) Im Schlußsatz geschieht alles auf andere Weise. Hier öffnet sich jede neue Episode vor unseren Augen in einer Weise, als würde das Material des vorangegangenen Abschnitts ”aufbrechen”: Bsp. 108 Was zunächst als eine Art Montage oder Mosaikform erscheint, ist in Wirklichkeit ein bewußtes Konstruktionsprinzip, und schafft so einen frappierenden Gegensatz zum dynamischen Bogen des ersten Satzes. Wenn unsere vorangegangenen Beobachtungen zutreffend waren, sollten wir den entscheidenden Wendepunkt wiederum im Anschluß an das zentrale Thema erwarten: in der unerwarteten Verwandlungsmusik des Taktes 114. Dieser Takt bringt auch einen Tonartwechsel mit sich, denn anstelle des erwarteten C-Dur kippt es hinüber zum Gegenpol fis. (Siehe hierzu Bsp. 179.) Der diatonische Einsatz des Fugenthemas stellt die schönste Eröffnung dieser Art dar. Das zeigt sich schon in der der Melodie zugrundeliegenden Tonleiter, deren Noten aus der natürlichen Obertonreihe abgeleitet sind (c-d-e-fis-g-a-b-c). Das Thema ist also nicht so sehr als Melodie eingeführt, sondern vielmehr als die Projektion einer Harmonie: Dies ist die Ursache der durchgängigen Klarheit, des hymnischen Schwebens des Themas und, wie früher erwähnt, seiner offenen Raumwirkung. Über dem Thema wird diese Wirkung, wiederum von rechts, noch besonders unterstrichen durch den Orgelpunkt der großen Sext (jenes Intervall, das in Bartóks Tonwelt zu Recht als ”pastorale Sext” bezeichnet werden kann). Dieses Thema ist der Schlüssel zum Verständnis des Werkes. Ist es denn nicht auffällig, wie lebendig diese unisono-Melodie durchdrungen ist von den metrischen Herzschlägen alter Hymnen, die einen Text von hellenischem Formsinn vermuten lassen: der in seiner Asymmetrie unendliche, doch zugleich klare Schwung wirkt wie das bewußte Nachempfinden der berühmten Seikilos-Hymne, Bsp. 110 jener Seikilos-Ode, die zugleich Trinklied
und Epitaph ist, Weisheit und Liebe zum Leben – Balance über die Dinge
von Leben und Tod.
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