Auf die Vergangenheit und Entwicklung des harmonischen Denkens zurückblickend, können wir behaupten, daß die Geburt des Achsensystems eine historische Notwendigkeit war, und die logische Weiterentwicklung der europäischen Musik, in gewissem Sinne die Vollendung dieser Entwicklung bedeutet. Das funktionale Gefühl begann mit der Erkenntnis der Beziehungen I-IV-V-I, Tonika c vorausgesetzt, also: Die klassische Harmonielehre spricht bereits von Haupt- und Nebendreiklängen, insofern das c durch das parallele a, das f durch das parallele d, das g durch das parallele e vertreten werden können: Die romantische Harmonielehre geht noch weiter, indem sie auch die oberen Parallelen in extremer Weise anwendet: Von hier ist nur noch ein Schritt zu tun, und das System wird zu einem geschlossenen Ganzen: die Achse erstreckt die Anwendung der Parallelen auf das ganze System; das Achsensystem ist die Erkenntnis dessen, daß es und a nicht nur c als gemeinsame Parallele besitzen (s. obiges Schema), sondern auch fis (ges), daß as und d nicht nur f als gemeinsame Parallele haben, sondern auch h, die gemeinsame Parallele von e und b nicht nur g, sondern auch cis (des) ist:
Das funktionale Prinzip behält bei all dem unverändert seine Geltung, nur wuchsen – dank des Zwölfstufensystems – die Zahl der sich gegenüberstehenden Schichten und ihre Vielfältigkeit. Das harmonische System Bartóks ist also kein Neubeginnen, sondern Zusammenfassung und Erfüllung. Wir wählen den Namen ”Achsensystem”, weil in diesem System die gegenüberliegenden Pole – die Gegenpole (z.B. c und fis) – nach Art einer Achse gepaart erscheinen und daher direkter miteinander verbunden sind als die parallelen Tonarten der klassischen Harmonik.
So zum Beispiel erhellt in Bartóks Herzog Blaubarts Burg die Beziehung zwischen den vier Polen anhand der Opernszenen selbst: das ”Nachtthema” ist aufgewogen durch das ”Lichtthema” und der ”Wundergarten” durch den ”Tränenweiher”. Gegenüber der intellektuell-spirituellen Dimension des Hauptzweiges ist die emotionale Dimension durch den Nebenzweig dargestellt: Bsp. 3 In Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta folgt jeder Satz demselben Schema (siehe Bsp. 100). Ähnlich basiert das Allegro barbaro auf der Polarität von fis-moll und C-Dur: Bsp. 4 Die H-Dur-Tonika des Violinkonzerts wird in der Durchführung vom F-Dur-Gegenpol abgelöst. Ebenso folgt der F-Dur-Tonika des Divertimentos in der Durchführung der H-Dur-Gegenpol. Charakteristischerweise organisiert Bartók sogar Themen basierend auf Zwölftonreihen nach dem Achsenprinzip. In der berühmten Reihe des Violinkonzerts berühren die zwölf Töne des Themas natürlich alle Stufen der chromatischen Tonleiter. Interessant ist jedoch, daß Anfang, Mitte und Ende in den Gegenpolen a—dis—a verwurzelt sind, und diese gleichsam gekreuzt werden durch die gebrochenen Dreiklänge der Gegenpole Fis-Dur und C-Dur/c-moll. Bsp. 5 Diese Reihe tritt mit der Bedeutung einer Dominante auf, da sie als ”Seitenthema” des Satzes eingeführt ist und damit den Überlieferungen klassischer Komposition Rechnung trägt: in H-Dur, der Grundtonart des Werkes, ist die Dominante durch die Achse a-fis-dis-c vertreten. Auch in Volksliedbearbeitungen findet man oft Achsen-Harmonisierung. In Kodálys Székler Lament ist der tonale Charakter bestimmt durch den Quartsprung von c, der mit dem Gegenpol Ges-Dur verbunden ist: Bsp. 6 Dieses Ges-Dur ist gefärbt durch das parallele es-moll und beantwortet durch dessen Gegenpol A-Dur: Bsp. 7
Im Achsen-System kann ein Pol durch seinen Gegenpol ersetzt werden, ohne daß dabei eine Veränderung der Funktion stattfindet. Als Beispiel möge hier noch einmal das schon oben zitierte Volkslied aus Kodálys Székler Lament dienen: seine erste Strophe endet in A7, aber die dritte Strophe schließt mit dem Gegenpol Es7. Bsp. 8 Beide Meister ziehen insbesondere in ihren
Variationswerken äußersten Nutzen aus den Möglichkeiten
der Achsen-Substitution: in den weiteren Variationen vertauschen
sie immer freizügiger Akkorde, die zu derselben Achsenfunktion gehören.
Das häufige Vorkommen tonaler Antworten und tonaler Korrespondenzen in Kodálys und Bartóks Musik legt Zeugnis ab von eindeutig funktionaler Denkweise. Hier müssen vor allem die Akkordfolgen in Gegenbewegung erwähnt werden, die nicht auf ”realer”, sondern auf ”tonaler” Spiegelung beruhen. Hierzu zunächst einige theoretische Erwägungen. Im Achsensystem wird durch den Schritt einer großen Sekunde in die eine Richtung dieselbe Funktion erzielt wie durch den Schritt einer kleinen Sekunde in die andere. (Geht man zum Beispiel von g als Dominante aus, so erreicht man die Subdominante entweder mit einem Ganztonschritt abwärts oder mit einem Halbtonschritt aufwärts: f oder as.) Dies ist bildlich abzulesen am ”Brückenmotiv” aus Bartóks Cantata profana. (Der Text hier bedeutet ”Sah’n dem Waldsteg nah...”): Bsp. 9 Die obige Regel kann aber noch ausgeweitet werden: indem man sich in einer Richtung um eine große Sekunde, Quarte, kleine Sexte oder große Septime fortbewegt, erreicht man innerhalb des Achsensystems dieselbe Funktion, als wenn man eine kleine Sekunde, große Terz, Quinte oder kleine Septime in der anderen Richtung wählt. Dieses Prinzip macht weitaus gewagtere Gegenbewegungen möglich, wie der Einzug des Kaisers und seines kaiserlichen Hofstaats aus Kodálys Háry János zeigt. (Die Ziffern bezeichnen Halbtondistanzen.) Bsp. 10
* Hier muß auf die scheinbaren Widersprüche zwischen dem Siebenstufen- und dem Zwölfstufensystem hingewiesen werden. (a) Nach Riemann ist der verminderte Dreiklang auf der VII. Stufe (h-d-f) nichts anderes als ein unvollständiger Dominantseptakkord (g-h-d-f). Die VII. Stufe vertritt nur dann eine unabhängige Funktion, wenn auf ihr ein Dur- oder Mollakkord gebildet wird. In diesem Fall fällt ihr die Bedeutung der SUBDOMINANTE zu. Bsp. 11
In der klassischen Musik strebt der Durakkord auf der VII. Stufe zur Auflösung in den Akkord der III. Stufe. Folglich dient er als Zwischendominante und erhält damit subdominantische Bedeutung. Bsp. 12 Die Ambivalenz von Sieben- und Zwölfstufenmusik ist auch augenfällig in kadenzierenden Akkordsequenzen. Innerhalb des Siebenstufensystems entsteht in der Akkordfolge zwischen f und h ein Bruch in der diatonischen Skala, indem anstelle der reinen Quinte eine verminderte auftritt. Das Zwölfstufensystem enthält selbstverständlich keinen derartigen Bruch. (b) Nach Rameau kann der neapolitanische Sextakkord (in C-Tonalität: f-as-des) nicht als echter Dreiklang auf der erniedrigten II. Stufe (des) betrachtet werden, sondern als alterierter Akkord auf der IV. Stufe. Aus diesem Grund ist der Akkord mit ”subdominantischem” Eindruck verknüpft. In der romantischen Harmonik kommt jedoch der kleinen Sekunde (des) eine unabhängige Rolle zu, und sie erhält infolgedessen ”dominantische” Bedeutung. (Siehe hierzu auch Seite 109-110.) Man könnte also praktisch feststellen, daß zwischen der traditionellen Harmonik und dem Achsensystem kein Widerspruch besteht. * Über die Bedeutung der Funktionen Vermutlich ist das Charakteristischste am Achsensystem die Tatsache, daß die individuellen harmonischen Funktionen eine symbolische Bedeutung erhalten. Auch in der traditionellen Musik war ja die Subdominante gleichbedeutend mit dem Bild des ”Herabsinkens”, und die Dominante mit dem des ”Aufsteigens”; doch waren dort die verschiedenen Funktionen vor allem abhängig von der Kreisbewegung der Akkorde (z.B. in I-IV-V-I). Bartók und Kodály gehen jedoch noch viel weiter und verleihen den einzelnen Funktionen unabhängige Bedeutung. Diese ist durch das absolute Verhältnis zur Tonika-Achse determiniert. Untersucht man die Wechselbeziehung zwischen Material und dichterischem Inhalt, so ergibt sich ein klarer Vorrang für Werke mit einer Handlung oder einem Text. Man kann annehmen, daß sich die ”Individualität” der drei harmonischen Funktionen zuerst in der Gattung Oper ausgebildet hat. So könnten zum Beispiel die zwölf Glocken aus Verdi’s Falstaff (siehe Bsp. 163) ohne die ihnen innewohnende Subdominant-Atmosphäre kaum das heimlich-unheimliche Frösteln heraufbeschwören, das das Wort ”mezzanotte” (Mitternacht) zum Ausdruck bringt. Andererseits erhebt uns Verdi in die Sphäre der Dominante, wenn er die ”himmlische” Schönheit seiner weiblichen Figuren oder die Magie der Natur abbilden will. Das Aida-Thema selbst – obwohl wir hinsichtlich der Tonalität in keinerlei Zweifel sind – berührt nicht einmal die Tonika: es schwebt auf der Quinte (und großen Terz) des Grundtons (siehe Bsp. 174). Auf Mozarts Opernbühne stellt die Subdominante den Spiegel der ”inneren” Bühne dar, und die Dominante den der ”äußeren” Bühne. Zwei kurze Beispiele aus Figaros Hochzeit mögen dies verdeutlichen. Die äußerliche, klar für jeden sichtbare Handlung ist mit Dominant-Tonika- Harmonien begleitet. Doch sobald die Figuren beginnen geheimnisvoll zu tun oder mit sich selbst zu sprechen, wechselt die Funktion sofort zur Subdominante. Bsp. 13 Je komplexer und raffinierter eine Mozart-Figur in ihrer Individualisierung ist, desto stärker ist die Rolle der Subdominant-Funktion: die Häufigkeit der Subdominante ist ein Zeichen des reichen Innenlebens (wie im Falle von Don Ottavio oder Tamino). Umgekehrt übernehmen Tonika und Dominante die Führung in der melodischen Welt seiner volkstümlichen, bäuerlichen Charaktere (wie Leporello und Papageno). In Bartóks Herzog Blaubarts Burg geht diese funktionale Zeichensprache Hand in Hand mit dem Libretto. Die statischen Stützen der Oper sowie ihre Ruhepunkte sind auf die Tonika gegründet. Die Subdominante hat negative Bedeutung und ist reserviert für die brennende, ungeformte Leidenschaft. Da sind die Tiefpunkte der Oper. Auf der anderen Seite nimmt jede positive Initiative ihren Ausgang von der Dominante, die auch die Möglichkeit der Erhöhung in sich birgt. Die Szene der siebenten Tür – die Frauen aus der Vergangenheit – ist mit ihrem fast kosmischen Arrangement von Morgendämmerung—Mittag—Abend—Nacht in dieser Hinsicht besonders erhellend. Übereinstimmend mit der Grundidee des Werkes ist ”Nacht” mit der Tonika fis identifiziert, und ”Mittag” mit deren Gegenpol c. Die ”Morgendämmerung” tendiert zur aufsteigenden Dominante, und der ”Abend” zur herabsinkenden Subdominante. Die ”Morgendämmerung”-Tonart B-Dur und die ”Abend”-Tonart d-moll sind symmetrisch angeordnet – sowohl in Beziehung zu fis als auch zu c. Fernerhin sind den Durtonarten von ”Morgendämmerung” und ”Mittag” die Mollfarben von ”Abend” und ”Nacht” gegenübergestellt. Bsp. 14 Ein weiterer interessanter Symbolismus
verdient erwähnt zu werden: das ”In-die-Vergangenheit- Zurückblicken”
der Subdominante steht dem ”In-die-Zukunft-Schauen” der Dominante gegenüber.
Diese Anordnung ist eng verwandt einerseits mit dem Subdominantcharakter
alter Volkslieder des Quartsext-Typs, andererseits mit der T-T-D-T (T-D-D-T)
Bogenstruktur neuerer ungarischer Volkslieder.
Die Beziehung zwischen den drei Funktionen Entgegen den I-IV-V-I Kadenzen klassischer Harmonik sind im Achsensystem die Funktionen der Tonika, Subdominante und Dominante am überzeugendsten vertreten durch jene drei Stufen, die den Quintenzirkel in drei gleiche Segmente unterteilen und daher Bestandteile eines augmentierten Dreiklangs sind. So fungieren z.B. c, e und as in diesem Sinne als Tonika, Dominante und Subdominante. Dies ist allerdings letzten Endes nichts Neues. Die Sätze in Brahms’ I. Symphonie folgen einander in eben dieser Anordnung: c—e—as—c, im Sinne von Tonika—Dominante—Subdominante—Tonika. Das dominantische Seitenthema in Beethoven’s C-Dur Waldsteinsonate erklingt in E-Dur, und der subdominantische langsame Satz in der c-moll Pathétique steht in As-Dur. Der erste Satz in Bartóks Konzert
für Orchester beruht auf dem fünffachen Erklingen des Hauptthemas.
Hier sind die zugeordneten Tonarten und ihre Funktionen:
Eine ähnliche Tonartenanordnung kann im I. Rondo für Klavier beobachtet werden: c für die Tonika, e für die Dominante, as für die Subdominante. Die tonale Anlage im ersten Satz von Bartóks
Sonate
für zwei Klaviere und Schlagzeug ist wie folgt:
Jede Achse impliziert eine doppelte Anziehungskraft, eine zweifache Dimensionalität – je nachdem, ob wir den Pol mit seinem Gegenpol in Verbindung bringen oder einen ”Hauptzweig” mit einem ”Nebenzweig” (siehe hierzu Bsp. 2). Man kann daher festhalten, daß jede einzelne Achse den Quintenzirkel in vier gleiche Segmente unterteilt. Alles in allem: das Tonalsystem, das wir durch die äquidistante Unterteilung des Quintenzirkels erhalten, entspricht vollständig dem Schema des Achsensystems. Bsp. 15 Die Aufbaubestandteile des Achsensystems
sind demnach:
Es ist leicht einzusehen, daß –
unter der Voraussetzung der drei Funktionen – auf der Basis der Äquidistanz-Unterteilung
innerhalb des Quintenzirkels nur ein tonales System errichtet werden
kann, und dieses ist identisch mit dem Achsensystem.
Tonal ”asymmetrische” und atonal ”symmetrische” Elemente Es wäre naheliegend, hier von ”Relativitätstheorie” zu sprechen. Das Achsensystem erhält das tonale – und tatsächlich mit ihm auch das funktionale – Denken aufrecht, wird aber zugleich auch den Äquidistanz-Gesetzen der Zwölftonmusik gerecht. Es repräsentiert eine Ordnung, die aus der Verbindung von Gegensätzen entsteht. Auch in dieser Hinsicht setzen die beiden ungarischen Meister eine der signifikantesten Traditionen der europäischen Musik fort: in kondensierter Form wird die historische Entwicklung ”nach-erlebt”, die (mit dem Auftreten und allmählichen Sieg der Äquidistanz-Modelle) schließlich zur freien und gleichberechtigten Behandlung der zwölf chromatischen Töne führte. Es war ja gerade die Wechselbeziehung
zwischen tonal ”asymmetrischen” und atonal ”symmetrischen” Elementen, die
die harmonische Welt der europäischen Musik zur einem dialektischen
Sprachsystem machte. Die antagonistischen Züge des Achsensystems spiegeln
tatsächlich den inhärenten Widerspruch zwischen tonalen Prinzipien
und Äquidistanz-Prinzipien.
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