Eine musikalische Analyse ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie näher an den Inhalt der Musik und seine authentische Interpretation heranführt. Theoretische Methoden beweisen ihre Gültigkeit, indem sie – wie Schlüssel – dazu verhelfen, bis dahin unverständliche Beziehungen aufzuschließen und es ermöglichen, tiefer in das Geheimnis der Komposition einzudringen. Ich habe mich häufig mit der Frage beschäftigt, ob relative Solmisation eine Methode oder ein Konzept sei. Ist sie geeignet, uns über ihren pädagogischen Zweck hinauszuführen? Wenn nicht, dann sind ihre Symbole zugleich Zeugen ihrer eigenen Leere. Was ist es, das ein Symbol in lebendige Materie verwandelt und die Silbe mit Erklärungswert ausstattet? Dürfen wir glauben, daß sich das Spiel mit den Solmisationssilben dazu eignet, Struktursysteme zu beschreiben, wo die klassische Theorie passen muß? Während die klassische Harmonik an die siebenstufige Diatonik gebunden ist, bewegen sich in der harmonischen Welt der Romantik und des 20ten Jahrhunderts die Akkorde innerhalb des geschlossenen Bereiches der Zwölf-Stufen-Chromatik; entsprechend reflektiert die erstere eine statische Denkweise, wohingegen die Bedeutung der letzteren durch die Beziehung der Harmonien zu einander bestimmt ist. Denn innerhalb des geschlossenen Bereichs des Quintenzirkels ist es ebenso unmöglich, von Fixpunkten oder von ”Fortschritt” zu sprechen, wie es unsinnig wäre, die auf einer Kugel oder Kreislinie zurückgelegte Entfernung ”Fortschritt” zu nennen. Aus diesem Grunde haben sich die Spätwerke Verdis und Wagners als für die klassische Theorie uneinnehmbare Festung erwiesen: sie widersetzen sich standhaft jeglichen Analyseversuchen. Die Wirkung klassischer Musik beruht auf funktionalen Anziehungskräften, während die der romantischen Musik sich auf modale und polymodale Spannungen zurückführen läßt. Modalität ist ein relatives System und kann daher am natürlichsten mit Hilfsmitteln der Relativität analysiert werden. Eine klassische Melodie kann einfach mit den Mitteln des Generalbasses beschrieben werden, d.h. durch eine Kombination von Stufen- und Intervallbezifferung, die die genaue Beschaffenheit des Akkords angibt. Da die Generalbaßbezifferung jedoch auf das diatonische System zurückgeht, ist sie ein ganz und gar ungeeignetes Werkzeug für die Analyse romantischer Musik. Typisch romantische Melodien üben ihre Wirkung in ganz anderer Weise aus! Der Prozeß sinnlicher Erfahrung, der dabei in unserem Bewußtsein durchlaufen wird, kann etwa wie folgt beschrieben werden: bei jedem Akkord innerhalb einer Folge suchen wir instinktiv nach einer Antwort auf die Frage: welches ist der Akkord, der nach den Gesetzen einer ”natürlichen” musikalischen Logik hier folgen müßte? Und diesen vergleichen wir dann mit dem Akkord, der tatsächlich an seiner Stelle erklingt. Die Bedeutung des Akkords wird also bestimmt durch den Spannungsunterschied zwischen beiden. Das Herzblut dieser Musik ist die Relativität: das System möglicher Unterschiede zwischen tonalen Elementen, das wir mit aller Berechtigung als System modaler Spannungen bezeichnen können. Verschiedene pädagogische Fiaskos haben mich zu der Erkenntnis geführt, daß romantische Musik eine terra incognita der Musiktheorie bleiben wird, ein weißer Fleck auf der Landkarte musiktheoretischer Erkenntnis – wenn an sie nicht mit den Mitteln der Relativität herangegangen wird. In unseren Analysen behandeln wir die Zeichen relativer Solmisation als mathematische Symbole. Jedes der zwölf Symbole bezeichnet einen musikalischen Charakterzug. Wenn wir erkennen, welches Zeichen Licht oder Dunkelheit darstellt, welches mit einem Anstieg oder Abfall verbunden ist, welches eine materialistische und welches ein spirituelles Erlebnis verkörpert, warum der Inhalt des einen expressionistisch ist und der des anderen impressionistisch – wenn, in anderen Worten, wir mittels der Zeichen unterscheiden können zwischen kalten und warmen Farben, positiven und negativen Spannungszuständen, wenn wir zum Beispiel wissen, daß FI erhebt und MA einen schmerzlichen Zug birgt – wenn wir all dies verstehen, dann haben wir, mit keinerlei weiteren Zeichen außer denen, die nötig sind, um die chromatische Tonleiter abzudecken, etwas von dem Reich erobert, das jenseits der Noten verborgen liegt. Kodály bietet uns eine Technik, die all das leistet, was man sich von einer idealen Theorie wünscht: (a) Sie ist leicht zugänglich
für jederman – musikwissenschaftliche Grundkenntnisse sind nicht erforderlich.
* * * Musikwahrnehmung basiert auf unserer Fähigkeit, musikalische Klangereignisse hinsichtlich ihrer Beziehung zu einer gegebenen Tonart (oder einem gegebenen Grundton) zu identifizieren – nicht unmittelbar hinsichtlich ihrer absoluten Tonhöhe. (Das absolute Gehör ist eine Veranlagung, die in den meisten Fällen angeboren und unabhängig von der direkten Musikwahrnehmung ist.) Der Vorteil relativer Solmisation gegenüber absoluten Tonbezeichnungen ist der, daß damit zugleich die musikalische Bedeutung (Funktion) der Töne ausgedrückt wird. Nach Kodálys musikalischem Konzept ist jeder Durtonleiter
mit DO-RE-MI-FA-SO-LA-TI-DO, und jeder Molltonleiter mit LA-TI-DO-RE-MI-FA-SO-LA
bezeichnet.
So gilt zum Beispiel in C-Dur (oder ebenso in a-moll): LA-DI-MI steht für den A-Dur-Dreiklang (a-cis-e)
Die chromatische Tonleiter in E-Dur oder cis-moll wird in Solmisations-Silben wie folgt wiedergegeben: Relative Solmisation ist mehr als das einfache Erlernen,
des Musik-Schreibens und -Lesens. Es ist im Grunde die einzige Methode,
die geeignet ist, modal-polymodale Beziehungen auszudrücken. In relativer
Solmisation wird z.B. die Geschlossenheit des Systems durch die Tatsache
ausgedrückt, daß DO-DI und MI-MA nicht nur Ableitungsformeln
sind, sondern zudem Spiegelbilder von einander. Diese Methode kann eine
grundsätzlich neue Aussage machen über die modale Struktur und
die Semantik der Musik.
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